Der Rüstringer Heimatbund besteht 75 Jahre. Sein Vorstand und Beirat haben Sie deshalb zu einer
Gedenkfeier eingeladen.
Heißt das, daß ich Ihnen jetzt einen Überblick über die Geschichte unseres Jubilars geben werde?
Ganz unkonventionell möchte ich das erst am Schluß und sehr kurz tun. Ebensowenig will ich mich
über die Pflege des Heimatgedankens in der üblichen Breite auslassen.
Sie wissen, meine Damen und Herren, der Stil des Denkens und Empfindens ändert sich mit den
Jahrzehnten; der Stil des Gesprächs ändert sich; die Wertakzente verlagern sich. Deshalb
unterscheiden sich auch die Festreden zur Gründung im Jahre 1892 von denen zum 40. Jubiläum im
Jahre I932 und von denen zum 75. Jubiläum im Jahre I967, wie sich ein Hausbau von I892 von dem von
I932 und von I967 mit Leichtigkeit unterscheiden läßt. Wie an dem stolzen Bürgerbau der Stuck und
Gips, der Protz und die Niedlichkeiten heute abgelehnt werden, so ist auch das große Pathos nicht
mehr angebracht, wenn man von der Heimat spricht.
Ich denke da, um einen Vergleich mit den
Niedlichkeiten und Sentimentalitäten zu haben, an das so einschmeichelnde Wort, das wir an der
"Alten Liebe" in Cuxhaven lesen: "Mit den Kräften Deiner Seele sollst Du Deine Heimat bauen."
Ich denke auch an das bekannte Wort: "Wer die Heimat nicht liebt und die Heimat nicht ehrt,
ist ein Lump und des Glücks in der Heimat nicht wert."
Gerade dies war eine These, die als
lautstarke Forderung vorgetragen, ja, sogar gesungen und mit einem Faustschlag auf den Tisch
unterstrichen wurde. Sie galt in den Gründerjahren des Rüstringer Heimatbundes und entsprach
dem Denken und Fühlen einer Zeit, in der man überschwänglich von heißer Vaterlandsliebe, von
Kaiser und Reich redete, in der Kanonen und Kolonien höchste Werte waren.
Heute sind diese Dinge fragwürdig geworden. Ist das auch bei der Heimat der Fall? Ist Heimat antiquiert? Kann man heute von der Heimat sprechen, ohne schnulzen- ohne bluboverdächtig zu sein? Ich wäre f ast verzweifelt an dieser Fragestellung, wenn nicht der amerikanische Philosoph Santayana dazu etwa Folgendes gesagt hätte: Gewiß ist das heimatliche Brauchtum - man faßt es drüben unter dem Wort Folklore zusammen - ein sehr urtümliches Treiben (animal in its origines), aber es ist gelegentlich auch mit Geist behaftet, wörtlich geistig in seinen möglichen Früchten! (spiritual in its possible fruits). Mir fiel dazu gleich ein Beispiel ein : Die Klootschießer-Wettkämpfe wurden vor 200 Jahren mit großer Rohheit ausgetragen und vor allem abgeschlossen. Sie endeten immer mit einer allgemeinen und wüsten Schlägerei, so daß sie schließlich von der Landesregierung verboten wurden. Im letzten Winter hörte ich in Colmar den Sprecher der Verliererpartei sagen: "Wi hebb't verlor'n. Een kann bloot winnen. Man wer to`n meisten an dissen moien Dag wunnen hett, is dat KlootscheterSpill, un wi hebbt us Deel darto daan." So, diese Erfahrungen und Gedanken hatte ich mir als Einleitung gedacht. Daß Sie es gleich wissen, meine verehrten Gäste, wir sind als ältester Heimatverein im Oldenburger Lande durchaus jung und munter. Wir bemühen uns, den Realitäten Rechnung zu tragen, neue Einsichten zu bekommen und in einer zeitgemäßen Sprache zu reden. Wir haben im vergangenen Jahr 100 neue Mitglieder gewonnen, so daß wir jetzt 500 zählen, mit den Familienmitgliedern ist das eine zum Heimatbekenntnis stehende Gemeinde von einigen Tausend.
Ich will Ihnen nun eine Geschichte erzählen: Vor mehr als 100 Jahren hatte einmal ein Mann aus dieser Gegend auf seiner Reise durch Weimar das Glück, bei Goethe vorgelassen zu werden. Jedenfalls war unser Landsmann ein kleiner Musensohn und großer Verehrer Goethes, weil dieser so berühmt war. Goethe hatte es schnell heraus, daß es hier für ihn nicht lohne, sich in ein literarisches Gespräch mit dem Gast einzulassen. Goethe wußte aber aus allen Situationen etwas zu machen und die Gelegenheit zu nutzen. Also fragte er unseren Landsmann nach den Merkwürdigkeiten seines Wohnortes, im ultima Thule, dem fernen Norden des Vaterlandes. Als unser Freund und Landsmann wenig darüber zu sagen wußte, zeigte ihm Goethe sein griesgrämlichstes Gesicht. Es waren noch andere Gäste da, aber diesem Gast, der nicht einmal über seine Heimat etwas Treffliches aussagen konnte, ließ er links liegen, zeigte ihm fürderhin die kalte Schulter.
Ich führe noch eine Geschichte an, meine Damen und Herren. Sie kennen Karl Jaspers, den großen Philosophen der Gegenwart und Sohn unserer engeren Heimat. (Seine Mutter stammt hier aus Abbehausen.) Durch Jaspers Vermittlung ist einmal ein uns Heimatfreunden im Innersten berührendes Dokument veröffentlicht worden. Es sind die Tagebuchblätter einer deutschen Frau in Paris I940-I944. Die Dame ist beides, eine Landsmännin von Jaspers und eine Leidensgefährtin von Jaspers im Widerstand gegen die Nürnberger Gesetze. Frau Elise Bamberger, geb. Pundt-Christians, schreibt also: 4. 7. I944. Dritte Vorladung bei der Gestapo im Rassenamt in der Avenue-Foch. Man schreit mich an: " Jedenfalls verlassen Sie heute dies Zimmer nicht, ohne Ihre Scheidung unterschrieben zu haben!" Man hat mich in eine Ecke gesetzt und schiebt den großen Schreibtisch schräg davor. So bin ich in der Falle.
"Warum unterschreiben Sie nicht "Weil ich religiös bin. Ich, habe versprochen, in guten und bösen Tagen zu meinem Mann zu halten. "Was, an diese jüdischen Märchen glauben Sie noch? Ist höchst rückständig." Das gebe ich zu, bin eben vom Lande." " Wieso? fragt der Beamte, "da bin ich doch neugierig." Ich antwortete: "Sehen Sie, falls wir auf dem Lande keine Sonne oder Regen oder von beidem zu viel haben; ist unsere Ernte gefährdet, alle Arbeit umsonst gewesen. Solange wir also das Wetter nicht meistern können, ist die Abhängigkeit von Gott sehr fühlbar. Nennen Sie es Natur oder Schicksal, für uns ist es Gott. Wir fühlen eben die Kraft über uns "Woher kommen Sie denn?" Unser Land ist flach, Deiche schützen es vor Sturmfluten. Vor den Deichen liegt oft ein Groden, das ist eingedeichtes Land zwischen Außendeich und Innendeich. Im Groden sind keine Bewohner. Bricht der Außendeich, läuft erst einmal der Groden voll, man gewinnt Zeit zur Rettung. Die Bauernhäuser liegen einzeln inmitten des dazugehörenden Landes. Sie haben alle irgendwie gotische Formen mit breitem Dach, früher meist mit Reith, heute mehr mit Ziegelpfannen gedeckt. Im Giebel sind zwei hölzerne, gekreuzte Pferdeköpfe, ein altes Zeichen, vielleicht noch aus der Hallstattzeit. Hinter dem Giebel hausen die Eulen; auf dem Dach sind oft Storchennester, es gibt ja Nahrung genug dort in den Wiesen." "Von dort stammt also Ihre Familie, die Pundts und die Christians, während Ihr Mann mit den Frankfurter Rothschildts verwandt ist?" "Wir waren für die Frankfurter Messe in Berlin, Frankfurt, London und vor allem hier in Paris tätig. 30 Jahre sind wir verheiratet. Ich habe nichts als diesen meinen Lebenskameraden, den ich nie verlassen werde. Nun ja, und die Erinnerung an meine Kindheit. Meine Familie ist friesischer Herkunft. Dies Volk ist bei uns an der deutschen Nordseeküste, in Holland, Dänemark und auf den Nordseeinseln heimisch. Plattdeutsche Sprache selbstredend. Der Menschenschlag ist groß, kräftig, blond, mit Augen wie das Meerwasser. Sehr wortkarg, nachdenkend, wozu ja das Wasser mit seiner Ebbe und Flut beiträgt. Wir sind Gerechtigkeitsfanatiker, dabei doch zartfühlend und religiös. Je er hängt an seinem Boden.
Sie sehen, meine Damen und Herren, wer in diesem Disput der Überlegene ist, und ich brauche Ihnen den Ausgang nicht weiter zu erzählen. Was sagen uns diese beiden Geschichten? So verschieden sie sind, doch das eine: Ohne Wissen über die Heimat hat jemand in seiner größten Stunde, der bedeutendsten Begegnung seines Lebens, verspielt. Mit Wissen über die Heimat hat jemand m seiner Stunde der größten Gefährdung gewonnen. Was da in den beiden Geschichten vor sich geht, ist einleuchtend; aber ich möchte noch deutlicher werden. Wir erfahren, daß uns Heimat Geborgenheit schenkt, allerdings in einer anderen Weise, als wenn man nur sagt, daß man sich in der Heimat, in seinem Zuhause wohlfühlt. Ob das immer ganz ehrlich ist? Ich meine die Geborgenheit, die man auch spüren kann, wenn man fern der Heimat ist. Sehen Sie die Sicherheit, die Frau Bamberger in Paris aus ihrem Heimatbewußtsein empfangen hat und der Gast bei Goethe hätte empfangen können.
Sie wissen, meine Damen und Herren, warum das Tier mit einem Schutzton begabt ist, eine Tarnfarbe hat. Diese Erscheinung mit dem Schutzton kann sich bis in höchste geistige Schichten hinauf erstrecken, sagt Eduard Spranger, und er fährt f ort: "So wird man sagen dürfen, daß der heimatlichen Umgebung ein Schutzton im feinsten seelischen Sinne eigen ist." Je mehr diese Eigenschaften offen zutage liegen, je mehr das Bekenntnis zur Gruppe unverhohlen geäußert wird, desto geschützter ist die individuelle Existenz. Der in Butjadingen geborene Professor der Theologie, Dr. Sibrandus Lubbertus (Sibrand Lubbesen aus Langwarden), war von den Niederlanden aus einer der Hauptstreiter des Protestantismus der Reformierten. Ihm erschienen die staatlichen und päpstlichen Machtansprüche der reinen Lehre Christi nicht gemäß. Er stand, wie Luther, auf dem Boden der Freiheit eines Christenmenschen. Stets berief er sich in seinen Disputen und Streitschriften darauf, ein Bruder in Christo zu sein und nur seinem Gott zu dienen. Als aber seine Gegner ganze Kübel voll Dreck über ihn ausleerten und ihn Saubrandus nannten, sagte er in seiner höchsten Nat nur: "Ich bin ein Friese!" Was heißt das, damals um 1590? Es wird nicht etwa die Erinnerung geweckt an Bonifazius, der von den Friesen erschlagen wurde, ebensowenig die Erinnerung, daß die Friesen die heidnischen Wikinger bekämpf ten. Nein, es gab in allen Jahrhunderten ein bestimmtes Wissen, daß den Friesen einmal von Kaiser Karl Privilegien eingeräumt worden sind. Die Vokabel von der "Friesischen Freiheit" war im ganzen Mittelalter bekannt. In Dr. Sibrandus Lubbertus kam also mit einer Verneinung der weltlichen und geistlichen Hierarchien lediglich das Erbgut und das Naturell eines Volkes zum Ausdruck. Sein Friesentum, im naturrechtlichen Schutz stehend, war es, was Sibrandus Lubbertus zum Schild gegen seine Feinde erhob. Vor gefährlichem Fanatismus, der oft den Verbrennungstod zur Folge hatte, schützte ihn auch der Besitz eines schönen Landgutes in den nördlichen Niederlanden, direkt hinter den Deichen. Hier fand er seine in Langwarden aufgegebene Heimat wieder, als er das Amt eines Rektors der Universität in Franeker bekleidete. Die Beispiele von stammesbewußten Friesen sprechen uns natürlich besonders an, aber wir wissen und müssen anerkennen, daß jede Heimat ihrem Kinde Schild und Schutz ist. Sagt ein österreichischer Gastarbeiter, seine Heimat sei Tirol oder das herrliche Wien, die Steiermark oder das Burgenland, so wird ihn keiner mehr mit "Kamerad Schnürschuh" hänseln. Der als heimatlos geltende Zigeuner, der sich geschickt als Ungar ausgibt, und von Pferden, der Pußta und seiner Geige spricht, gewinnt unsere Achtung. Wir haben uns an Hand einiger Beispiele überzeugt, wie wertvoll eine Kenntnis der Heimat und ein Bekenntnis zur Heimat sind. Sei es, daß wir selbst in die Lage kommen, wie jener Österreicher, sei es, daß wir in höchster Gefahr sind, wie die Oldenburger Dame in Paris, sei es, daß wir, ähnlich unserem Landsmann bei Goethe in Weimar, eine Tischrunde etwa bei einem Besuch in München unterhalten müssen - wir wollen an die Bedeutung eines Bekenntnisses zur Heimat denken.
Schon eine kleine Anekdote bekommt mehr Gewicht, wenn gesagt wird: bei uns in Mecklenburg, bei uns in Texas. Kennen Sie Geschichten über Butjenter Bauern, über die "dicken Bauern" hierzulande? Natürlich ist es da besser, über die Zusammenhänge und die Verhältnisse von Land und Leuten etwas Bescheid zu wissen. Der Marschbauer stach einst von seinem Kollegen auf dem Sandboden deutlich ab. Nirgends waren die Pferdezucht und die Ochsenmast so zur Blüte gekommen, wie in Butjadingen. Weshalb nur? Das ist nicht nur wegen der fetten Weiden, man soll es ruhig wissen und kann es erzählen. Butjadingen war mitsamt dem nördlichen Oldenburg vom 30jährigen Krieg verschont geblieben. Das bewerkstelligten der Graf Anton Günther und sein geschickter Sekretarius und Gesandter Mylius von Gnadenfeld, einem geborenen Butjadinger namens Hermann Müller aus Rodenkirchen. Sie schenkten Hunderte von edlen Pferden an die kriegführenden Parteien. Das war wirklich ein guter Anfang für die Pferdezucht und die Grundlage zum Reichtum der Züchter.
Was die Ochsenmast anbetrifft, so wurde diese gefördert, weil die Lage der Unterweserhäfen Brake, Großensiel und Nordenham für den SchlachtviehExport nach England günstig war. Die Bauern wurden noch reicher und deckten ihre Häuser mit kostbarem englischen Schiefer. Da war einmal einer als Zeuge vor Gericht nach seinen Personalien gefragt worden. Evangelisch? Ja! Lutherisch? wollte es der Richter genauer wissen. Dat weet ick nich! Ob er denn Luther nicht kenne? Nää, denn kenn ick nich, awer he schall mi woll kennen! Das ist so wie eine Geschichte von "Geld und Geist", die hier zu Hause ist, und es ist ärgerlich, daß andere Gegenden sie als Anekdote über ihren neureichen Bauernstand zu übernehmen anfangen. Denn wir lachen gern über uns. Daß Sattheit und Behäbigkeit auf Kosten der Bildung geht, ist ja nur eine grotesk-witzige Aussage. In Wahrheit gibt es keine Landschaft, in der in solcher Breite über Dörfer und verstreute Höfe ein Heimatbund Fuß faßte. Heute vor 75 Jahren, unter der Anregung des Marschendichters Hermann Allmers. Immerhin, ein Bauernstolz ist hier nicht zu leugnen, und nirgends sonst als gerade in Butjadingen konnte folgendes passieren, was sich als Anekdote auch wieder anderswo einnisten möchte: Auf die Frage eines Fremden, ab denn keine Mitglieder des Adelsstandes in der Hohen Ratsversammlung seien, erging von einem Butjenter Bauern die Antwort: De hebbt wi alle dodslaan! Diese wahre Geschichte zeigt, daß speziell in der Wesermarsch die Bewohner freiheitlich-friesischer waren als in den anderen Frieslanden, die sich nicht rühmen können, keinen Adel im Lande zu haben, geschweige denn die anderen Provinzen, wo der Adel stets die Führung innehatte. Eine dritte kleine Geschichte, aber selbst erlebte Begebenheit, zeigt uns, daß die Butjadinger Bauernart auch heute nicht gebrochen ist: Der Staatssekretär von Rohr sprach vor einigen Jahren in Stollhamm auf einer landwirtschaftlichen Versammlung über die Viehwirtschaft und die Krise auf den Vieh- märkten. Da fand er eine Zuhörerschaft vor, kritisch und kompromißlos, selbstbewußt und sich überaus wichtig nehmend. In der etwas hitzigen Debatte schlug er, teils ärgerlich, teils amüsiert heraus: Eure Weidewirtschaft ich weiß es gut - ist kein Erwerbszweig, kein Geschäft, Eure Weidewirtschaft ist eine Weltanschauung - und ich hüte mich, Euch mit Vorschlägen allzu nahe zu treten!
Nun, ich meine, wir sind jetzt so weit, systematisch an die Arbeit zu gehen: Ausschau zu halten nach den Dingen in unserer Heimat, die wissenswert und merkwürdig sind, die im wesentlichen originell sind. Lassen Sie mich das mit Ihnen durchgehen. Dazu nehme ich einen "Katalog" zur Hand, denn so sieht das aus, wenn man von allen bedeutsamen Fakten eine Aufstellung macht.
Die Rüstringer-Butjadinger Heimat betrachten wir zunächst unter einem geographischen Gesichtspunkt. Für uns ist es leichter, weil wir neben dem Kartenbild die direkte Anschauung haben. Butjadingen ist eine Halbinsel. Nach allen Seiten können wir an das Wasser, nur im Süden nicht. Das Land ist flach. Von dem Mittelpunkt, von einem Kirchturm aus können wir bis an seine äußeren Konturen, die Deiche blicken. Einem größeren Kartenbild mit den umliegenden Gebieten entnehmen wir schnell, daß unser Butjadinger Land Teil eines Flußdeltas ist. Historische Karten zeigen uns noch zahlreiche Wasserarme, wie sie für ein Delta typisch sind. Erdgeschichtliche Karten müßten zeigen, daß sich der Hauptstrom, die Weser, verlagert hat, hin- und hergependelt ist zwischen Eckwarden und Einswarden oder etwas weiter noch: zwischen Lehe und Jever. Heute finden wir die Süßwasser der Weser in ein raffiniertes Netz von Kanälen und Gräben bis in die äußerste Spitze und den letzten Winkel Butjadingens geleitet. Jede Landparzelle hat künstlich eine Wassergrenze bekommen. Das ist eigenartig genug, denn wir haben damit ein Landwirtschaftsareal mit Zuwässerung und Entwässerung, wenn ein Zuviel von oben kommt. Es ist allzu oft kein Segen, dieser Regen! Den eigentlichen Segen bekommen wir seltsamerweise von unten; vorzügliches Trinkwasser aus dem unteren Diluvium, aus einer Tiefe von 80-100 Metern. Einige 30 000 cbm werden hier im Flachland täglich heraufgeholt. Unser "Feldhauser Sprudel" kommt aus einem Gebiet, in dem einst die Malaria grassierte!
Wir sollten uns wirklich für die Geologie unserer Heimat interessieren. Wie seltsam, das hochaufragende Helgoland vor unserer flachen Küste und das ungemein tiefe Zwischenahner Meer. Die Wissenschaftler haben eine Antwort. In großen Zügen sei hier nur gesagt: Ursprünglich gab es festes Land bis zur Doggerbank. Dann nahm das Meer in einer globalen Anhebung des Meeresspiegels - wegen langsamen Schmelzens der polaren Eiskappen - Besitz davon. In früheren Zeiten hielt man den Vorgang für eine Küstensenkung. So oder so - im Grunde gehören wir in die Todeszone. Wir leben in der Mitte einer Meeresbucht, in der alles, außer Seetieren und Wasserpflanzen, hätte ertrinken müssen. Allein in die Küstenrandzone ergossen sich unendliche Mengen von Schlamm, Verwitterungsprodukte der einst viel höheren Mittelgebirge. Darauf wohnen wir, darauf steht Nordenham und - zum alten Rüstringer Gau gehörig - Wilhelmshaven, das sinnreich auch "Schlicktown" genannt wird.
Wir befinden uns, was den Boden unter unseren Füßen angeht, in einer Waagesituation: vordringendes Meer gegen vordringendes Land! Das gab schon oft dramatische Spannungen und Zwischenfälle! Wir beobachten ein Wechselspiel von Sieg und Niederlage der zwei Elemente Erde und Wasser. Es ringen um ihre Abgrenzung gegeneinander das Erdreich und die Wasserwüste. Welch treffliche Bezeichnungen übrigens in der deutschen Sprache! Hinzu kommt: der Mensch greift in den Kampf der Elemente ein. Hier zeigt sich der Mensch in seiner Größe. Nichts ist dieser Tat vergleichlich, es sei denn die Erschaffung der Welt. Kein besseres Beispiel für die faustische Tat fand Goethe als dies Ringen am Rande, das des Menschen zwischen dem Meer und dem Lande. Ja, Goethe sah die Symbolkraft dieses Geschehens: Daß die Menschen gegen die wilden ungestalten Massen einen Damm setzen! Man sollte doch wirklich wissen, daß der eigentliche Schauplatz, der Goethe hierzu inspiriert hat, die Wesermündung war, deren eigentümliche Geschichte ihm vertraut wurde, als er von dem Hergang des Hafenbaues in Geestemünde erfuhr. Indessen warten wir noch auf das Kunstwerk, das dem Werk Faustens oder der Menschen hier an ihren Deichen musikalischen Ausdruck gibt, auf eine Tonsetzung, die der Auffassung von der Eintönigkeit unseres Küstenlandes Lügen straft. Wir hatten ein Rezitatorium - "Stromland - aber dies Werk und sein Schöpfer wurden nicht verstanden. Zu groß wohl war der Abstand von den Jahrhunderten der furchtbaren Sturmflutkatastrophen. Und dann kam es vier Jahre darauf doch zu einer Flutkatastrophe, zu der Februarflut I962.
Nach altem Glauben und alten Sagen ist so eine verheerende Sturmflut ein göttliches Strafgericht für ein sündhaftes, sorgloses Menschengeschlecht. Der Mensch hier darf eben die Vergangenheit nicht vergessen und muß immer wieder an die Gefahren erinnert werden, die diesem Lande drohen. Das ist auch heute noch der Ernst der Lage: kommt die Flut des Jahrhunderts noch und bringt uns alle um? Wird der Himmel uns gnädig sein? Wird der Mensch vernünftig sein und an die Vergangenheit denken, um Vorsorge für die Zukunft zu treffen? Im Augenblick wird vom Staat und den Wasserverbänden sehr viel für den Küstenschutz getan. Auch sind die Geologen der Meinung, daß über globale Klimaschwankungen durchaus eine Periode des Stillstandes im Schmelzprozeß des Polareises möglich ist, wie schon dreimal in den vergangenen 12 000 Jahren. Im großen Trend aber geht es awärts, d. h. aufwärts mit dem Meeresspiegel, der allein mit den Schmelzwassern des Grönlandeises um 6,7 Meter ansteigen würde.
Wie sehr also bestimmen erdgeschichtliche Vorgänge unsere kleine Landesgeschichte der Rüstringer Friesen und der Bewohner Butjadingens. Das wäre ein zweites Kapitel unserer heimatlichen Merkwürdigkeiten. Die Siedlungsgeschichte Butjadingens zeigt viele Züge der Anpassung an die sonderbare Natur dieses Landes. Wie eigenartig und interessant ist dies einstige Wohnen auf Wurten, den künstlich aufgeworfenen Erdhügeln! Es befindet sich ein kleines Dorf darauf oder oft nur ein Haus. Die Wurten weisen wegen drei- bis viermaliger Erhöhung in der Zeit von Christi Geburt bis zum Jahre 1000 verschiedene Wohnhorizonte auf. So sind sie eine Schatzkammer für den Archäologen. Man macht bedeutende Funde an Keramiken. Die Feststellung von Hausgrundrissen gibt wichtige Hinweise. Heute kann man schon aus einem Mosaik von Funden ein Gesamtbild bekommen und daraus Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Ordnung, die Agrarverfassung und das kultische Leben in der Vorzeit gewinnen. Wir stehen inmitten dieser Arbeit. Ein fünfbändiges Werk erscheint demnächst. (Der erste Band ist fertig und kostet 238,- DM). Wir verfügen in Wilhelmshaven über ein staatliches Institut eigens für Marschen- und Wurtenforschung. Das sollten wir uns vergegenwärtigen und auf weitere Forschungsergebnisse warten. Butjadingen hat etwa 500 Wurten. Zur Landesgeschichte gehört auch die Geschichte der Landesherrschaft. Sie ist in unserem Falle insofern bemerkenswert, als es in diesem Lande Jahrhunderte lang keinen Landesherren gab. Gerade Rüstringen bewahrte sich die legendäre friesische Freiheit am längsten. Dies ist eine erregende Geschichte für sich. Vier Schlachten wurden dafür geschlagen, nur eine war siegreich. Eine Gemeinheit war es, wie die Fürstenmacht und die mit ihr verbündeten abenteuernden, oft sogar geistlichen Rittern besonders nach Sturmfluten, die das Land in Not gebracht hatten, in die Bauernrepublik einfielen. Wir hören von der Schlacht bei Hartwarden, der Schlacht bei Coldewärf, der Schlacht bei Waddens, der Schlacht bei Langwarden. Auf Seiten der guten Friesen war natürlich auch etwas Unrechtes vorgefallen, so schuldlos waren sie nicht. Sie überfielen Kauffahrteischiffe, wenn sie infolge von Sturmfluten in Not geraten waren. Dann war nämlich nicht nur das Land verwüstet, auch Viehseuchen breiteten sich aus. So folgte ein Unglück dem anderen, wenn das Wasser einbrach. Und das wiederum wußte der Sieger, der neue Herr des Landes, künftig zu verhindern, wenigstens zwei Jahrhunderte lang, bis zur entsetzlichen Weihnachtsflut 1717. Der Deichbau wurde etwa vom Jahre 1520 an vernünftig geplant. Gräfliche Deichbaumeister beschafften Material und hielten die Menschen zur Arbeit an. Landesherrliche Vögte wurden eingesetzt, Hand- und Spanndienste befohlen. Alles, was im Zuge der Begradigung neu eingedeichtes Land wurde, behielt der Graf selbst. Ein Teil davon ging als Geschenk an adlige Freunde, Helfer und Beamte. Das übrige ist heute das staatliche Alt-Domänenland, ca. 300o Hektar in Butjadingen. Im Jahre 1919 wurde davon wieder ein Teil an private Siedler vergeben, wodurch sich das Landschaftsbild in Seefeld, Augustgroden und Roddens geradezu veränderte. Aber noch immer gibt es 20 staatliche sowie stattliche Domänenhöfe in Butjadingen, an denen sich jeder als Mitbesitzer fühlen kann.
Bemerkenswert für uns ist, daß unter der dänischen Herrschaft, die durch Erbfolge die Oldenburger Grafen ablöste, der Schweiburger Deich vom dänischen Admiral Sehestedt gebaut wurde. Zur französischen Herrschaft unter König Jeröme von Westfalen, dem Bruder Napoleons, erwähnen wir kurz, daß sie verwaltungsmäßig eine neue und bessere Ordnung brachte. Personenrechtlich wurden feste Familiennamen eingeführt, die Ehe standesamtlich zu notifizieren, zum Gesetz gemacht. Die angesehensten Familien kollaborierten, stellten den Bürgermeister, den Maire, und ließen ihre Söhne zur großen Armee gehen. Im Lande selbst waren französische Truppen stationiert, um an Jade- und Wesermündung gegen den Handel der Engländer die Kontinentalsperre zu errichten. Die Namen "Blexer Batterie" und "Kaserne" bei Stollhamm deuten auf jene Zeit. Die Franzosen waren schreibfreudig, hatten sie doch eine korrekte, zentral gelenkte Verwaltung. Deshalb haben wir aus dieser Zeit reichlich Urkunden. Die Ortschroniken von Stollhamm, Esenshamm und Rodenkirchen bringen davon interessante Beispiele. In den Staatsarchiven ruhen Berge von Urkunden in französischer Sprache, unsere Gegend betreffend. Die Sprache war der Stolz der Franzosen schon damals. Wenn sie meinten, Kultur bringen zu müssen, gehörte nach ihrer Meinung die Sprache dazu. Darin aber hatten sie sich verrechnet. War es doch die Zeit Goethes, und das Deutsche war zu einer Sprache höchster Vollkommenheit geworden. Ein Beispiel der Sprachbeherrschung ist der Brief der 19jährigen Tochter des Hofbesitzers in Absen, Hinrich Müller, Maire in Rodenkirchen. Sie schrieb an ihren Bruder, der Soldat werden mußte : Rodenkirchen, den 9. August 1813 "Lieber Hedde! Noch nie schien die Trennung von Dir, meinem einzigen Bruder, so schmerzlich als in diesen Stunden der Nacht und Einsamkeit, wo ich die traurige Gewißheit habe, daß wir nur noch wenige Stunden unter einem Dache leben werden. Du warst unser bisheriger lieber Gesellschafter und treuer Bruder. Deine Entfernung wird uns die Tage beschwerlicher und die Abende lang und traurig machen. Ich will Dich, Du Guter, nicht weiter mit meinen Klagen beunruhigen; unsre Liebe ist mir jetzt Trost. Ich habe Dir mit Freuden jeden Dienst, jede Gefälligkeit geleistet, da Du bei uns warst; ich kann fortan nichts mehr für Dich tun, aber ich will beten, ich habe für Dich mein Gesangbuch beigelegt, es erhebt und beruhigt, den frommen Dichtern desselben nachzubeten. Nr. 355 scheint mir für unsere Tage gemacht zu sein. Ich gehe dann täglich zu den Kirschbäumen, die Du pflanztest, ich glaube, Dir dort näher zu sein, ich weine, kehre zurück und zwinge mich, ruhig zu sein, um unsere Mutter und Schwestern zu schonen." usw. Der Bruder soll der Tugend treu bleiben, sich schonen. Der Brief schließt mit den Worten: "Der Herr möge alles wohl machen, Sein guter Geist geleite Dich in jedem Kampf und einst in die Heimat. Lebe wohl! Deine treue Schwester Anna Catherine Müller"
Hinrich Müller, der Vater dieser reizenden jungen Dame, ist übrigens ein Vorfahr von Karl Jaspers, genauer dessen Ururgroßvater. Könnte man da nicht von einem roten Faden in der Genealogie der Geschlechter sprechen? Vielleicht könnten wir von einer Landesintelligenz sprechen? Ist es denn Zufall, daß der Butjadinger Ernst Tantzen, Gemeindevorsteher von Stollhamm, Präsident der verfassunggebenden Versammlung für den Freistaat Oldenburg war? Ist es Zufall, daß ein Butjadinger, Theodor Tantzen aus Heering Abbehausen, der erste Oldenburgische Ministerpräsident während der Weimarer Zeit wurde? Der Gemeinsinn, der Freisinn und das Rechtsempfinden dieser Männer beruhen auf der demokratischen Tradition in Friesland.
Damit kommen wir zur Rechtsgeschichte. Wir hörten von den französischen Verwaltungs- und Rechtsreformen, die eine Folge der Französischen Revolution waren und in unserem Gebiet mühelos Eingang fanden. 300 Jahre früher gab es eine Verwaltungs- und Rechtsreform durch die gräflichen Eroberer. Sie wurde erbittert bekämpft. Es ist bezeichnend, welche gesellschaftliche Stellung der bäuerliche Kirchjurat in dieser unfreien Zeit der gräflichen Vögte gewann. Diese kleine kirchliche Domäne noch verbliebener Selbstverwaltung, die einige Gerichtsbarkeit einschloß, wurde um so mehr gepflegt. Vor dem Landrecht der Oldenburger Grafen galt das Rustringer Recht. Wir berühren dabei eines der interessantesten Kapitel unserer Heimatgeschichte - wie das der fraglichen Küstensenkung. Das Rustringer Recht ist niedergelegt im sogenannten Asega-Buch, in seinen 17 Willküren und 24 Landrechten. Das Rustringer Recht wurde Gegenstand eingehender Studien von Professor Wilhelm Ebel aus Göttingen und Oberarchivrat Dr. Schmidt aus Hannover. Die Überschriften ihrer diesbezüglichen Arbeiten lauten: "Von der Rechtskunst der Friesen" und "Die friesische Freiheit im Mittelalter." Die kritische, wissenschaftliche Erforschung der Texte hat erst begonnen. Man möchte herausbekommen, wieviel in der ersten Handschrift literarische Zutat, wieviel durch die Christianisierung, etwaige Mißverständnisse und Wunschvorstellungen des Schreibers verfälscht worden ist.
Das ursprüngliche Rustringer Recht ist darum für uns so wichtig, weil unter ihm rühmenswerte Taten vollbracht worden sind. Ich denke da an den Bau der Wurten, besonders der mehrere Hektar großen Dorfwurten - ohne Sklaven, ohne Fron. Ich denke auch an den selbständigen Abwehrkamp f gegen die Wikinger. Gerade hier in Rüstringen, im Mündungsdelta der Weser, war das besonders notwendig. Auf diplomatischem Wege hatten die Rüstringer eine Befreiung vom Heerbann Kaiser Karls errungen, weil sie vor einer "Seeburg" und vor den Wikingern auf der Hut sein mußten. Die Rüstringer bauten entlang der Küste Signal- und Alarmplätze, die noch heute im Lande stehenden Jedutenhügel. Mindestens 12 Ortsnamen entlang der Küste deuten auf Signalplätze hin, ja, auf Plätze, auf denen sich die Rüstringer in der Verteidigung übten. Sie mußten stets gerüstet sein!
Eine bewunderungswürdige Leistung erkennen wir auf dem Gebiet des Kirchenbaues, deren Voraussetzungen die starke Rechtsverfassung und die gute gesellschaftliche Ordnung sind. Wo sonst gibt es alle 5-6 Kilometer eine Kirche? Und es war nicht einmal das Material dazu am Platze! Um den Transport zu ermöglichen, mußten sich die Land- und Wasserwege in genossenschaftlicher Regie befunden haben. Das erforderten die Verhältnisse in der Marsch in besonders hohem Maße. Was ich Ihnen bis jetzt über die geographischen, geologischen und geschichtlichen Merkwürdigkeiten unserer Heimat sagte, sind Beispiele dafür, wie lehrreich es ist, sich mit der Heimat zu beschäftigen. Der Heimat forscher könnte über jede Merkwürdigkeit ein ganzes Buch schreiben er hat sich meistens spezialisiert. Der Heimatfreund aber möchte einen umfassenden Überblick bekommen. Für ihn ist nur das Arbeitsergebnis wichtig, und dies muß ihm in einer leicht verständlichen Form nahegebracht werden. Was er erwirbt und dann besitzt, ist ein Schatz, ein Schutz, ein Schild, wie wir anfangs sahen. Ein Schmuck könnten wir noch hinzufügen, wie es Leonardo da Vinci meinte, wenn er sagte: Die Kenntnis von er Lage und der Beschaffenheit der Erde ist eine Zierde und Nahrung des menschlichen Geistes. Beschäftigen wir uns weiter mit unserem Katalog heimatlicher Merkwürdigkeiten! Die Kirchen - auf hoher Wurt - sind mitunter noch als ehemalige Wehrkirchen gut erkennbar. Man zeigt uns, wo einmal ein Pferdestall eingebaut war, man zeigt uns Ludwig Münstermanns Kunstwerke und Arp Schnitger-Orgeln. Draußen ist immer der Friedhof mit alten Steinmalen". . und eine Ahnung von Feierlichkeit alles Gewesenen streifte meine junge Seele, schrieb ein Dichter darüber.
Die Wurten nannten wir schon als Teil der Siedlungs- und Vorgeschichte. Aber achten Sie einmal auf die heute unbewohnten grünen Kuppen im Lande! Achten Sie auch auf die Reste alter Deiche, die unvermutet mitten im Butjadinger Lande vorkommen. Machen Sie Ihre Studien an der Architektur der alten Bauernhäuser und der großen Scheunen und lernen Sie den friesischen und den niedersächsischen Stil unterscheiden. Sie sehen eine der letzten, jedoch die schönste und gepflegteste Windmühle in Moorsee, das beliebte Fotomotiv der sonntäglichen Autofahrer und Besucher der Marsch. Wir sehen die eigenartigen Sie orte, die Butjadinger Häfen, ihre verträumten, altersgrauen Häuser, aber auch das lebendige Treiben der Fischer während des Granatfanges. Vor den Deichen liegt das weite Wattenmeer. Man kann darauf gehen. Wir sehen, wie das Wasser in den Prielen aufläuft. Wir erleben ein einzigartiges Vogelparadies, besonders in der Abgeschiedenheit der Andelgroden, einzigartig auf der Vogelinsel Mellum, die mit einem Fischkutter zu erreichen ist. Besuchen kann man auch das Naturschutzgebiet des Schwimmenden Moores in Sehestedt am Jadebusen. Wir hören das Plattdeutsche, seine Redensarten, Sprichwörter und Kraftausdrücke. Wir können uns lange über ein Wort unterhalten, über seinen schönen Klang, seine treffende Aussage, seine Verwandtschaft mit dem Englischen. Wir hören die Ortsnamen, die immer eine Sprachstudie wert sind. Oft gibt es darüber Streit, ob eine patronymische Deutung, d. h. von Personennamen, eine theophore (aus dem kultischen Bereich), eine folkloristische, eine volksetymologische oder eine geographische Deutung zutreffend ist. Weil wir hier das Weserdelta haben, ist eine geographisch-hydrographische Deutung meistens richtig. Wir hören die Familiennamen, und die Vornamen, von denen einige landeseigentümlich sind, dann die "Ökelnamen" : Jan Ticktack, Katten-Lina usw. Zu diesen passen die köstlichen Geschichten von den Originalen im Lande. Vielleicht erleben wir ein Klootschießen, das Osterfeuer, das Maibaumsetzen, eine Erntefeier. Wir lesen Heimatdichtung, hören das Lied der Heimat, das Lob der Heimat, die Klage der Heimat. Um das Jahr 1720 lebte in Eckwarden der Bauernpoet Hinrich Janßen, ein Feld-, Wald- und WiesenPoet. Lächeln wir nicht! Er erreichte es nach der Sturmflut vom Jahre 1717 mit einer gereimten Bittschrift, daß der Landesfürst auf 217000 Taler verzichtete, die das Land an Abgaben zu entrichten hatte, und daß er über 273 000 Taler ein Moratorium gewährte. Das Land konnte aufatmen. Janßen hatte das berühmte Gymnasium in Quedlinburg besucht, aber mit der großen Weihnachtsflut fielen auch seine Pläne ins Wasser, der Hof brauchte ihn.
Ich nenne nun die Großen unseres Landes, vom benachbarten Rechtenfleth Hermann Allmers und aus unserer Mitte Alma Rogge. Segensreich für die Heimat wirkten auch die Lehrer Wilhelm Lauw aus Waddens und Erich Lampe aus Abbehausen, beide Dichter und Forscher. Dann sind da die unter uns weilenden Lehrer und Forscher Christian Künnemann und Eduard Krüger. Durch sie erfahren wir in Büchern und zahllosen Aufsätzen, was Kirchenbücher, Familienchroniken, Gemeindearchive, die frühesten Landesbeschreibungen und die alten Zeitungen über den Alltag unserer Altvorderen aussagen. Über der Lektüre der "Oldenburgischen Anzeigen" vom Jahre 1834 und dem Jahrgang 1 der Butjadinger Zeitung 1876 (Sie finden beides in unserem Archiv), hat kürzlich jemand seine Briefmarkensammlung, die Fortsetzung der Kriminalgeschichte und den "Spiegel" völlig vergessen wie er mir sagte.
Diese Begegnungen mit der Umwelt sind seelisch und geistig erregend, und man bekommt dabei eine Beziehung zu der Örtlichkeit oder der Landschaft. Es bilde sich dann eine metaphysische Lebenseinheit, sagt Eduard Spranger. Was sich vollzieht, sei eine "seelische Ansiedlung." Wahrhaftig, man kann bei der Beschäftigung mit diesen Dingen zum Philosophen werden! Es handelt sich um eine Philosophie, die jedermann verständlich ist, weil sie ihn persönlich zutiefst angeht; denn jeder möchte zu sich selbst finden! Fassen wir einmal die Gedanken Eduard Sprangers zusammen :
1. Mit der Heimat wird uns eine Ganzheit geboten, an der wir die abstrakten Fächertrennungen überwinden. Heimatkunde ist eine totalisierende Wissenschaft. 2. Unser Standort, unser Wohnplatz ist unsere Individuallage. Diese auszuwerten ist ein guter Ausgangspunkt für ein gesundes, gegenständliches Denken und ein rechter Anfang für ein geschichtiches Denken. Was liegt näher als der Schluß, daß die Heimatkunde einen hohen Bildungswert hat - besonders für den jungen Menschen. Das betonen auch Pestalozzi und Spranger. Ich glaube aber, wir sollten diesen Gedanken nicht so ohne weiteres übernehmen. Wir müssen unterscheiden zwischen der Jugend in den ersten Schuljahren und den älteren Jahrgängen. Den älteren Jugendlichen bedeuten das Heimatbewußtsein und die Heimatforschung wenig. Jugend wird immer das Abenteuer in der Ferne suchen, sie ist versucht, gerade im Fremdartigen zu verharren, sich an ihm zu messen. Sie will Neues entdecken, will die patriarchalischen Fesseln von Haus, Schule und Kirche loswerden. "Heimat" ist ihr Bevormundung, ja, ist der Besitz der Anderen, der Älteren. Jugend will selbst etwas sein und Eigenes besitzen. Das kann sie zu Hause nicht. Die weibliche Jugend hat diesen Zug nicht minder. Höher als die Heimat steht ihr die Welt, wo der Geliebte wohnt und wirkt, wo sie ihr eigenes Reich aufschlagen kann. So strebt denn alle Jugend fort von hier; und ist sie durch Schule und Berufsausbildung noch an die Heimat gebunden, so ist sie im Geiste längst woanders. Ich meine, wir sollten das nicht so tragisch nehmen. Es ist eben zu natürlich und letztlich gewiß auch gut. Sogar Hölderlin, einer der tiefsten Dichter und Denker, verkündete so: "- nämlich zu Hause ist der Geist nicht am Anfang, nicht an der Quelle, ihn zehret die Heimat. Kolonie liebt und tapferes Vergessen der Geist". Hölderlin deutet die Seele als Widersacher des Geistes. Bei Ludwig Klages, der ein Freund der Heimat- und Jugendbewegung war, heißt es umgekehrt und pessimistischer: "Der Geist als Widersacher der Seele." Bei allem Respekt vor der Seele, wer wird in dem Widerstreit eine Niederlage des Geistes wollen? Denn das bedeutet die Herrschaft des Ungeistes, wie wir sie schon einmal erlebt haben. Nun können wir auch den sich vorhin zeigenden scheinbaren Widerspruch lösen. Sind wir einerseits vom Bildungswert der Heimatkunde für die Jugend überzeugt und wollen ihr andererseits die Begegnung mit der großen Welt, ihre volle Hingabe an sie nicht verwehren, dann müssen wir so vorgehen, wie es die Kirche auf ihrem Gebiet tut. Diese Institution zieht weise die Bildsamkeit des kindlich-jugendlichen Geistes in Betracht und fordert: "Die Jugend hat ihren Katechismus zu kennen." So halte ich es für wichtig, daß die Jugend eine Art Katechismus der Heimatkunde lernt. Dazu bedarf es keines besonderen Heimatbewußtseins, wie die Kirche heute auch kein ausgesprochen christliches Bewußtsein von der Jugend erwartet.
Dem Jugendlichen wird etwas eingegeben, ab er will oder nicht, damit er später Gebrauch davon machen kann. Wenn er im Leben steht, kann er das ihm auf gezwungene Kapital nützen. Die christliche Erziehung kennt nicht nur Strenge, sondern auch Nachsicht, Freundlichkeit und die Bereitschaft, heute in ihren kirchlichen Gemeindehäusern Raum für Fröhlichkeit und Ausgelassenheit zu geben. So sollten wir es auch tun. Wir wollen streng darauf achten, daß der Heimatkatechismus während der ersten vier Grundschuljahre gelernt wird. Wir wollen aber auch freundlich sein und Freude machen. Fördern wir das Spiel, das Turnen, Reiten, Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Wattwandern, Rudern und Küstensegeln, die Teilnahme am Volksfest, an Osterfeuern, Erntefesten, Klootschießen, und lehren wir die Lieder der Heimat. Geben wir den jungen Menschen daheim, in unseren vier Wänden ein fröhliches Zuhause. Verschonen wir sie vor psychologisch folgenschweren Verbitterungen. Versagen wir der Jugend nicht, was wir ihr als Eltern, Lehrer, Seelsorger, als Nachbarn schuldig sind. Freunde aus der Stadt, lassen Sie Ihre Kinder einen Bauernhof kennenlernen! Sie bekommen dort einen nachhaltigen und tiefen Eindruck von den Jahreszeiten, vom zaghaften Wachsen, vom Gedeihen und Verderben in der Natur, davon der Mensch ein Teil ist. Lassen Sie Ihr Kind einmal in den Bann der Urphänomene kommen: Wind und Wetter, ein Winkel Wildnis, der sich findet in Feld und Flur. Spranger nannte das "seelische Ansiedlung", und die ist bei niemanden eher möglich als beim Kinde, wenn sich ihm ein Fleck Erde, sein Wohnplatz, mit all seinem Reichtum und seinem Zauber erschließt. Sie wissen selbst, Kindheitseindrücke wirken das ganze Leben nach. Entschuldigen Sie die Wiederholung, aber ich muß es einmal deutlich werden lassen. Es gibt Entwicklungsstufen, die als geistige Wachstumsperioden organisch durchlebt werden. 1. Die Kindheit im Schoße der Familie, d. h. in der häuslichen Mitte. 2. Die Erweiterung des Gesichtskreises in der späteren Kindheit, wo die Umwelt die engere Heimat ist. 3. In der 3. Entwicklungsstufe vermittelt die Grundschule die Kenntnis der ganzen Heimat, Schon beginnt die Sehnsucht in die Ferne beim Heranwachsenden. 4. Das eigentliche Mannesalter, Der Mensch geht hinaus in die Welt. In weiser Erkenntnis dieser Unvermeidbarkeit schickten die Handwerkerzünfte ihre jungen Gesellen in die Welt. Drei Jahre und einen Tag durfte der wandernde Handwerksbursche die Schwelle des Elternhauses nicht betreten. Welche reichen Erinnerungen von schönen und harten Tagen "auf der Walze" teilte uns kürzlich ein alter Handwerksmeister in der Sonderbeilage "Leuchtfeuer" der NWZ mit. Als er heimgekehrt war, habe er erst richtig gewußt, was Heimat ist. August Hinrichs, der als wandernder Handwerksgesell durch Europa zog, schrieb bezeichnenderweise nach seiner Heimkunft den Roman "Das Licht der Heimat." 5. Heute ist das reife Mannesalter auch noch Jugend. Die Menschen bleiben länger draußen, sie arbeiten, wo sie am meisten verdienen oder sich am besten entfalten können. 6. Das späte Mannesalter. Jetzt verlangt es den Menschen nach Besinnung Er denkt an seine Kindheit, an seine Heimat. Das aktive Leben hat sich für ihn erfüllt, oder - er ist enttäuscht. Er kehrt heim, seinen Frieden und früheste Freunde suchend. In den Nachkriegsjahren wandten sich die Menschen besonders der Heimat zu, wenn sie diese nicht infolge der Ausweisung unwiederbringlich verloren hatten. Das ist das Leid der Heimatvertriebenen. Eine neue Heimat zu finden für sich und vor allem für ihre Kinder, können wir ihnen gar nicht genug helfen.
Haben wir nun an alles gedacht, was sich zum Thema "Welt und Heimat" sagen läßt? Sicher nicht! Ich erinnere z. B. an die vielen Menschen, die draußen ihre Heimatzeitung abonniert haben. Ich weiß von einem herrlichen Haus in Kalifornien; es ist im Ranch-Stil gebaut. Sein Besitzer, ein Verwandter, schrieb mir, der schönste Schmuck drinnen seien ihm die Bilder seiner Großeltern aus Stollhamm, das Bild ihres friesischen Bauernhauses und zwei Karten von Butjadingen, die ich ihm schickte. Er verdanke diesen Dingen manche Stunde der Besinnung und Sammlung. An diesem Beispiel erkennt man besonders deutlich, daß Heimkehr, von der wir sprachen, im Grunde Einkehr ist. Mit 55 und sogar mit 65 Jahren ist man heute noch nicht alt, und doch geht mancher Mensch dann "vor Anker". Er räumt der Jugend das Feld, wenn er es wohl muß. Immer häufiger beobachtet man, daß da die Heimat zur Zuflucht wird, die alte Heimat. Ein Häuschen am Deich in Waddens wird erworben, so von einem, der Professor an der Technischen Hochschule in Hannover geworden war, oder gar ein ganzer Bauernhof, wie von dem Generaldirektor einer Weltfirma in Wiesbaden. Beide Herren sind natürlich Mitglieder des Rüstringer Heimatbundes. Eine große Zahl der "Heimgekehrten" liest wieder die Aufsätze in der Nord-West-Zeitung, oder vertieft sich in die launigen Geschichten von Binnendieks un Butendieks, die Vertellsels und Döntjes von Jan van`n Diek in der "Kreiszeitung Wesermarsch" zu jedem Sonntag. Man sucht womöglich Anschluß an einen Heimat- oder Geschichtsverein und arbeitet intensiv mit, wie der aus Bonn nach Ostfriesland zurückgekehrte Bundesarzt Dr. Otto Buurmann, Herausgeber des achtbändigen Plattdeutsch-hochdeutschen Wörterbuches.
Die Gründer unseres Rüstringer Heimatbundes selbst waren gewissermaßen Heimkehrer. Hermann Allmers, 1821 geboren, hatte seine Marschenheimat durch und durch kennengelernt. Er schrieb im Jahre 1857 das für Heimatbetrachtungen bahnbrechende "Marschenbuch". Dann kamen seine Wanderjahre in Rom und die "Römischen Schlendertage". 1882 war er 61 Jahre alt, er gründete den "Verein der Männer vom Morgenstern", I892 unseren "Rüstringer Heimatbund".
Der Mitbegründer, Heinrich Heddewig, 1839 in Eckwarden geboren, absolvierte eine Kaufmannslehre in Bremen und in St. Petersburg. Obwohl er noch sehr jung war, wurde er Agent des Norddeutschen Lloyd. Eine Malariaerkrankung beendete seine bisher glänzende kaufmännische Laufbahn. Heinrich Heddewig wurde Landwirt in Eckwarden und später auf Jericho bei Burhave. Der dritte im Bunde der Gründer war Peter Cornelius aus Seeverns, Hofbesitzer, Tierzüchter und Ökonomierat. Er hielt am 8. Mai 1892 zur Gründung des Rüstringer Heimatbundes die Festansprache. Sämtliche Honoratioren des Stad- und Butjadinger Landes wurden Mitglieder. Vorsitzende waren nacheinander ein Landwirt und Gemeindevorsteher, ein Pastor, ein Rechtsanwalt, ein Dr. agr., ein Rektor, wieder ein Pastor, ein Rentner, ein Auktionator. Danach führte 30 Jahre lang der fast allen hier im Saal noch gut bekannte und hochgeschätzte Zeitungsverleger Elimar Böning den Vorsitz. Ihm folgte für drei Jahre der ebenso bekannte Rektor Eduard Krüger, heute unser Ehrenmitglied. Dieser kann krankheitshalber nicht bei uns sein, aber ich bin gewiß, er denkt in dieser Stunde an uns hier in der Friedeburg, in steter Sorge, daß dem Rüstringer Heimatbund die genügende Ehre erwiesen wird. Um den verdienten Männern des Heimatbundes gerecht zu werden, möchte ich hier Dr. Richard Heye erwähnen. In seinem 89. Lebensjahr stehend, hat er soeben eine umfangreiche Chronik von Rodenkirchen herausgegeben. Ebenso will ich Christian Künnemann erwähnen, unser Ehrenmitglied, dessen Name in Forscher- und Pädagogenkreisen am weitesten über die Grenzen Butjadingens hinaus bekannt geworden ist. Es gibt meines Erachtens kein Wort, mit dem ich meine Ausführungen zum Jubiläum des Heimatbundes angemessen abschließen könnte. Es ist schwer nüchtern und sachlich zu bleiben, wenn man vom Rüstringer Heimatbund spricht, der treuen Mitglieder gedenkt und besonders der Männer, die sich um ihn verdient gemacht haben. Wir versprechen, daß uns der Rüstringer Heimatbund immer am Herzen liegt. Wir wollen opferbereit für ihn arbeiten.
Wir rufen auch den anderen zu:
Freunde, geht mit uns! Habt Teil an unserer Freude und Forschung!
Laßt Euch dahingleiten auf dem magischen Strom der da heißt: Heimat!
und fragt nicht,
was dämmert herauf in der Zeiten Ferne.
Seid getrost, liebt die Heimat
und hebt ihr Bild in die Sterne wohlgemut!
(A. Mähl)