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DER MYTHOS VOM NASSEN TOD

Zur Entwicklung der Nordseeküste und der Kultur an der Küste aus Sicht der Ökologie.
Von Wolfgang Meiners, Iffens.
Nach einem Treffen zur Küstenkultur in Hambur im Februar 2006 habe ich Lust bekommen, den Text zum Mythos vom nassen Tod zu überarbeiten. Viele Vorträge und Führungen zu diesem Thema habe ich seit 1989 gemacht und einiges kann ich sicherlich besser erklären. Die Lücken sollen gefüllt werden und für die Zeichnungen suche ich Hilfe.
Wer es eilig hat, möge sich bitte per e-mail melden und nachfragen.
Auch sind Kommentare und Ergänzungen willkommen.

Inhaltsübersicht:

Vorwort von C.P.Lieckfeld: Der Blanke Hans -
oder: Was macht die Friesen so friesisch?
oder: Versuch der Demontage eines Mythos

Einleitung:
Naturkatastrophen und menschliche Dummheit -
Grundlagen des ökologischen Blickwinkels

1. Zu Fuß nach London - Die Geologie der Küstenentstehung
1.1 Eiszeit
1.2 Sedimenteintrag
1.3 Fraktionierte Sedimentation
1.4 Groden
1.5 Das Moor kommt dazwischen

2. Satt aber krank:
2.1 Die Besiedlung der Küste
2.2 Nahrungsvielfalt/-reichtum an der Nordseeküste
2.3 Kehrseite - chronische Krankheiten (fehlt!!!)

3. Quellen der Geschichtsforschung
4. Menschen arrangieren sich mit der Natur an der Küste
4.1 Besiedlung der Küste durch die Friesen
4.2 Saisonale Schafwirtschaft
4.3 Hausbau auf Wurten
4.4 Winterquartiere
4.5 Ernährunge/Vorratshaltung
4.6 Wege zu Wasser und zu Lande
4.7 Handel
4.8 Graupen und Bier

5. Der Übergang zur Neuzeit: Der Mensch wird mächtig, Von extensiver zu intensiver Bewirtschaftung
5.1 Christianisierung der Nordseeküste
5.2. Missionierung
5.3 Wirtschaftliche Erfolge der neuen Religion
5.4 Feldzug gegen die Friesen
5.5 Politische Herrschaft an der Nordseeküste

6. Die Folgen der Ausbeutung/des Kampfes gegen die Natur: Wie macht man Naturkatastrophen?
6.1 Der Einbruch des Jadebusens
6.2 Bau von Winterdeichen
6.3 Sieltore und -tiefs
6.4 Bildung der Knickmarsch
6.5 Nahrungsüberfluss für die Menschen
6.6 Eindeichungstechnik und Sturmfluten
6.6.1 Deichhöhe
6.6.2 Häuser ohne Wurten
6.7 Malaria
6.8 Steinhäuser
6.9 Viehbesatz
6.10 Sozialgeschichte

7. Was nun? Hilfen aus der ökologischen Sicht der Küstenentwicklung für das heutige Leben der Menschen an der Küste.
7.1 Forum Friesenrat
7.2 Heimat (und so?)
7.3 Charakterprägende Besonderheiten, oder: was fotografiert ein Gast?
7.4 Tourismus
7.5 Technik heute


Als Ersatz für einen Buchklappentext:
DER MYTHOS VOM NASSEN TOD oder: Versuch der Demontage eines Mythos

Gegen Märchen und Mythen ist nun wirklich nichts einzuwenden: Es sei denn, sie transportieren Geschichtsverfälschung und Zerrbilder der Wirklichkeit. Dieses Buch untersucht einige Zentral-Mythen der Küste und versucht, ein wenig am Fundament einer neuen, notwendigen Ökologie der Küste mitzuarbeiten.

Der Mythos von der raubenden See:
Die Vulgärversion, aufgekocht in duzenden Festschriften und Küstenbüchlein, will wissen, dass die Nordsee stets mordbereit und unersättlich ihren Landhunger stillt. Tatsache ist, daß die Nordsee das Land vor der eiszeitlichen Sandküste aufbaute, und daß sie sich selbst den Weg ins Binnenland verbaute. Erst der Mensch lud sie zu Übergriffen ein.

Der Mythos vom nassen Tod:
Die Menschen ertranken nicht schicksalhaft, sie wurden ertränkt. Die großen Sturmfluten konnten nur deshalb verheerend wirken, weil die Menschen die Fähigkeit verloren hatten, mit den Naturkräften zu leben.

Der Mythos der Deiche:
Jahrtausendelang bewohnten und nutzten die Friesen das Land ohne Deiche. Die Deiche, die schließlich die Phase der Küsten-Sommerweide ablösten, hatten die Katastrophe gewissermaßen eingebaut. Deiche verdarben die Böden, stehendes Wasser in Küstennähe wurde zur Brutstätte für Malaria. Die Mücke rottete die Urbevölkerung aus: Friesland wurde Zuzugsland.

Der Mythos der reichen Marsch:
In dem Maße, wie das Marschland nicht mehr "aquatisch" war, ließen sich Grenzen festlegen. Grenzen ermöglichten Herrschaft, Herrscher schafften den Reichtum außer Landes. Den Abglanz von Frieslands Reichtum finden wir heute noch in Herrensitzen auf der Geest und in den küstennahen Städten wie Oldenburg und Bremen.

Ein neuer ökologischer Mythos ?

Auch unsere Deiche, auch unsere Landwirtschaft programmieren die Katastrophe. Was lässt sich aus den Erfahrungen der Frieslande für eine Ökologie der Küste lernen?
Horst Stern hat einmal gesagt, die einzig akzeptable Grundlage für Tierliebe sei Wissen. Das lässt sich, meiner Meinung nach, weiterfassen: Heimatliebe, soll sie nicht tümelnd und raunend sein, muß auf Fakten gründen. "Der Mythos vom nassen Tod" ist keine Schmähschrift gegen die Alten, sondern ein Plädoyer für Arrangements mit der Natur. Und hier lässt sich in der Tat von den Alten lernen, ohne daß deshalb einer spätromantischen Technikvergessenheit das Wort geredet werden muss.

Der Blanke Hans - oder: Was macht die Friesen so friesisch?

Vorwort von Claus Peter Lieckfeld, Iffens, im August 1989

Der Kampf gegen den blanken Hans, das Ringen mit der brüllenden See, das unablässige Aufbäumen gegen die Mordsee - all das modellierte einen Menschenschlag so hart wie Walroßzahn und so zäh wie Schlickwatt.
Die See, so lesen wir es in heimatkundlichen Bekennertexten, hat die Friesen so friesisch gemacht. Was sonst ? Und das Wortkarge der Friesen kommt natürlich daher, daß der steife Wind ihnen die überflüssigen Worte abschneidet, das Gradlinige ihres Wesens, schließlich, ist nur das Spiegelbild des weiten Horizontes.
Und ...... - wollen Sie noch ein paar Klischees ? Es gibt genug davon im plattdeutschen Land. Heimatkunde scheint der Nährboden für Mythen zu sein. Mythen können eine böse braune Farbe annehmen, der "Friese" war einer der Parade-Recken der Nazis. Mythen können aber auch harmlose, kitschbunte Gestalten annehmen. In jedem Fall scheint mir eine Überprüfung der Küsten-Mythen sinnvoll; denn Heimatkunde ist zu wichtig, um sie nach rechts ausfransen zu lassen, oder der platten Harmlosigkeit zu überantworten.
Nur : Heimatkunde muß aufhören zu raunen und muß anfangen zu räumen: aufzuräumen mit liebgewordenen Halbwahrheiten.
Z.B.: ... - aber war es , um die Gretchenfrage vorwegzunehmen, denn nicht die See, die die Küstenbewohner jahrtausendelang prägte, sie schließlich unverwechselbar machte ? - Schon ! Aber wären die Friesen und ihre Nachbarn die stoischen Kämpfer gegen den nassen Tod gewesen, als die sie uns aus den Legenden und Chroniken entgegentreten, sie hätten eben diesen Tod erlitten, wären nur eine Episode der Geschichte geblieben. Es war, mit Verlaub, ein wenig anders.


Eine Einleitung:
Naturkatastrophen und menschliche Dummheit

Seien wir ehrlich, oft ist es zweckmäßig, die eigenen Fehler nicht zuzugeben. Dann hilft uns eine gute Ausrede weiter.
Ausreden sind trügerische Problemlöser, denn dieses Wegdrücken der Fakten birgt eine Gefahr: Wir gewöhnen uns so sehr an die Ausreden, daß wir Schein und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können. So entstehen Vorbei-Erklärungen und Scheinwelten.
Ihre literarisierte oder kulturell verdichtete Gestalt nennen wir einen Mythos. An der Nordseeküste gibt es einen solchen Mythos, der sich sogar als allgemeines Kulturgut einwurzeln konnte: Den Mythos vom nassen Tod, also von den Heimsuchungen der Bewohner durch Sturmfluten, den sogenannten Mannstränken.

Es soll hier nun keineswegs geleugnet werden, daß Menschen bei Sturmfluten ertrunken sind. Es geht uns nur darum, die wirklichen Ursachen dieses nassen Todes zu suchen und die Nordsee von bequemen und unhaltbaren Schuldzuweisungen freizusprechen.
Wir können die Sachverhalte ausführlich untersuchen, also:
Welche Realität verbirgt sich hinter einem solchen Mythos?
Was soll hier erklärt oder verklärt werden?
Solche Fragen sind schnell gestellt, die Antworten erfordern ein Buch.
Denn es geht letztlich nicht um die Schuldfrage, sondern um die Erfordernis, von den Fehlern unserer Vorfahren zu lernen.

Es soll in diesem Buch eine neue Antwort gesucht werden, entlang der Fragen :
1. Wie ist die natürliche Eigendynamik des Ökosystems Küste?
2. Warum und wie haben sich unsere friesischen Vorfahren an dieser Küste angesiedelt?
3. Welche erwünschrten und unerwünschten Effekte hat die Nutzung und Veränderung des Lebensraumes durch Siedler?
4. Gibt es für uns heute noch eine Chance, im Einklang mit der ursprünglichen Küstennatur zu leben? Auch und gerade hier, wo sich die Natur scheinbar so kompromisslos und aggressiv zeigt?
Das Miteinander von Mensch und Natur fehlt heute als ökologischer Imperativ in keiner grünen Fibel. Aber lässt sich dies auch an der rauhen Nordseeküste verwirklichen?
Wenn wir als Menschen nicht mit der Natur umgehen können, wenn wir deutliche Fehler machen, lasten wir das oft nicht unserer eigenen Dummheit an, sondern reden vom harten Kampf gegen die Naturgewalten.
Selbstverständlich gibt es richtige Naturkatastrophen, bei denen zum Beispiel ein Vulkanausbruch, ein Sturm oder ein Erdbeben menschliche Lebensräume in kurzer Zeit zerstören kann.
Katastrophale Auswirkungen haben ebenfalls Kriege der Menschen untereinander, bei denen auch schon versucht wurde sie als Gott gegeben oder als natürliche Kampflust zu mythologisieren. Nicht selten sind aber scheinbare Naturkatastrophen tatsächlich die Produkte der Irrtümer oder Dummheiten der Menschen. Und diese Fälle interessieren uns. Drei Beispiele mögen die Logik solcher selbstgemachter Katastrophen erklären:
Zwei Personen, Otto und Emil sind schlecht angezogen in einen Regenschauer geraten, wurden durchgeregnet und haben sich erkältet. Otto sagt, ein schlimmes Unwetter habe ihm die Gesundheit geraubt. Emil sagt, er habe dummerweise Mantel und Regenschirm vergessen, und sich erkältet. Würden beide wieder in einen Regenschauer geraten, dann hätte Otto sich in der Ausrede (Naturgewalt-Tätigkeit) geübt, Emil hätte aber Schirm und Mantel dabei.

Oder: Die Schlagzeile Glatteis forderte ein Todesopfer bedeutet, entkleidet man sie ihrer schwammigen Ideologie: Der Autofahrer hatte noch nicht gemerkt, daß es Winter geworden war und war noch nicht vorsichtig genug gefahren.

Oder: Solange alle Rheinanlieger in Köln und Koblenz die Hochwasserfluten in ihren Kellern für Naturkatastrophen halten, wird sich die Firma Schnur & Gerade, Spezialistin für Flußbegradigungen, Gewässerverbau und Bodenversiegelung im Rheinoberlauf in Sicherheit wiegen und ohne Angst vor Regressansprüchen weiter Überschwemmungs-Katastrophen inszenieren.
So bietet unser Alltag ungezählte Beispiele dafür, wie wir uns an Erkenntnissen vorbeiwinden und höhere Mächte, etwa die Natur, bemühen. Diese Technik des Vorbei-Erklärens ist an der Küste prinzipiell nicht anders als im Binnenland. Unter dem Eindruck der Sturmflutkatastrophen war sie allerdings verhängnisvoller als anderenorts.

Doch ehe wir die Mythologisierung der Naturgewalt durch den Menschen betrachten, muß unser erstes Augenmerk der Natur selbst gelten, ihrer eigenen Arbeitsweise, also der Küstenentwicklung ohne menschliches Dazutun.

1. Zu Fuß nach London - Die Geologie der Küstenentstehung


1.1 Eiszeit

Wie weit sollen wir in der Erdgeschichte zurückgehen, um die Entwicklung der Nordseeküste zu beschreiben? Ist es nötig, bis in die vulkanischen Kindertage der Erde zurückzuwandern? Brauchen wir Erkenntnisse über die Kontinentalverschiebungen der Erdrinde?
So wie ein Werkzeug seinem Verwendungszweck angepasst werden muss sollten auch die Blickwinkel der Forschung für eine Fragestellung geeignet sein. Das hilfreiche kulturzeitliche Mass für unser Thema setzt an der Nordseeküste nach der letzten Eiszeit an.

Wir gehen etwa 8000 Jahre in unserer Zeit zurück. Felsbrocken und Geröll wurden durch den Hobel aus meterdickem Eis aufgenommen, zu Sand zermahlen, mitgeführt und schließlich abgelagert. Das Eis lies eine Sandwüste zurück in der sich durch den Wind flache Hügelformationen und Geestböden bildeten, eben die bekannte norddeutsche Tiefebene. Das Schmelzwasser füllt die Nordsee und letztlich bildet sich eine Sandküste die heute noch im küstennahen Binnenland als Geestrand zu erkennen ist.

Die für uns wichtige Dynamik der Küstenentwicklung beginnt also mit dieser Landkarte. Die Zeiten davor beschreiben die Entstehung Helgolands, den Einbruch des Zwischenahner Meeres oder auch das Versinken des Doggerlandes in der Nordsee. Das ist sicherlich auch spannend, trübt aber erheblich den Blick auf das grundsätzliche Prinzip der Küstenentwicklung. Und das muss so einfach sein, dass es für die ganze friesische Nordseeküste gilt, aber trotzdem Spezialisierungen und örtliche Besonderheiten offen lässt.
Betrachten wir also die Grundzüge der Entwicklung dieser hohen Sandküste an der Südeseite der Nordsee.
Eine Marsch, die heute typischen schweren Tonböden der Küste, gab es noch nicht. Marsch hat sich die See im Laufe der Jahrtausende nach der Eiszeit selbst geschaffen: aufgeschwemmt!

1.2 Sedimenteintrag

Zunächst wird es physikalisch und fünf nötige Begriffe und Phänomene kennen wir von Erfahrungen aus unserem Alltag:

1. Erosion:
Wenn im Winter die Wasserleitung zerplatzt, das Gartentor nicht mehr zugeht oder der Hundenapf mit Wasser zerspringt, dann sind das die Kräfte, die auch Felsgestein zermahlen. Steinbrocken werden zerkleinert und es bilden sich zwei Partikelformen: grössere Sandkörner und kleinere Tonteilchen. Der Effekt heisst Erosion und hat die Mittelgebirge um viele Meter kleiner gemacht. Wir haben im Einzugsbereich unserer Flüsse (Elbe, Weser, Ems etc) nur Bodentypen, die diese beiden Erosionspartikel bilden. Damit vereinfacht sich glücklicherweise die Beschreibung der Bodenentstehung.

2. Sedimentation:
Eine Aufschlämmung ist die feine Verteilung von festen Stoffen im Wasser. Wir kennen das Prinzip von der Getränketheke: Der Automat für Apfelsinensaft hält den Saft stets in Bewegung und die begehrten Feststoffanteile des Saftes bleiben gut verteilt. Stellt der Gastwirt abends die Rührflügel ab, so setzt sich der Trübstoff ab, bildet eine Bodenschicht und darüber steht der nun klare Apfelsinensaft. Das Absitzen des Feststoffes heisst Sedimentation, der Feststoff selbst wird Sediment genannt. Der Vorgang benötigt Wasser. In den Flüssen wird der Boden mit dem ablaufenden Regenwasser als Aufschlämmung an die Küste transportiert.

3. Sand und Ton:
Ein Gärtner interessiert sich sehr für den Sandanteil in seinem Gartenboden. Er nimmt einen kleine Probe zwischen die Zähne und prüft: je mehr es knirscht, desto mehr Sand, je mehr es quietscht, desto mehr Ton enthält der Boden. Diese beiden Bodentypen haben wir auf dem Festland südlich der Nordsee im Einzugsbereich der Flüsse Rhein, Ems, Weser und Elbe. Nicht nur in den Gärten, sondern auch im Sediment der Nordsee. Zunächst betrachten wir nur die physikalischen Eigenschaften der beiden Bodentypen, im Besonderen deren unterschiedliches Teilchengewicht. Später werden wir sehen, daß auch deren Fruchtbarkeit für die kulturelle Entwicklung der Küste von grosser Bedeutung war.

4. Neuland:
Ein kurzer Blick ins Weserwasser macht die Dimension der Sedimentverfrachtung nicht klar. Getrübt wird unser Empfinden von den Dimensionen an Zeit und Wassermassen. Tatsächlich transportiert die Weser heute im Jahresmittel durchschnittlich etwa 600 Zentner Feststoffe pro Stunde (etwa 6 m³ Boden). Das Jahr hat 8600 Stunden und in 8000 Jahren sind das etwa 80 000 000 Kubikmeter Schlamm. Mit dicken Daumen geschätzt sind das bei einer durchschnittlichen Ablagerungstiefe von 4 Metern 2000 km² an Neulandfläche.
Solche Hochrechnungen sind sehr abenteuerlich und ich hoffe es versucht nicht jemand die Massen genau auszurechnen. Wichtig ist aber das Potential der Erosion zu zeigen.
Nun sollten diese Flüsse die Sedimentfracht, wie sonst auf der Welt auch üblich zu einem Dreieck das dem Delta den Namen gegeben hat an der Mündung aufgeschüttet haben. Zeichnung von 3 Deltamündungen

5. Tide:
Was so harmlos an das Wort Zeit erinnert (Tide= Tied= Zeit)und auch Gezeiten heisst wird von himmlischen Kräften getaktet. Ebbe und Flut transportieren zweimal täglich ernome Wassermassen an die Küste und saugen sie zurück in die Nordsee. Mond, Erde und Sonne treiben eine Kraftmaschine an, die wir mit unserem physikalischen Blickwinkel kaum beschreiben können. Stellen wir uns vor das Watt würde zweimal am Tag volltändig mit einer Schicht an 3 Meter hohen Containern zugestellt und wieder abgeräumt. Sowohl die Masse selbst als auch die Bewegung (Strömung) sprengt unsere Vorstellungskraft. Die Tide nimmt das Sediment aus den Flüssen auf und verteilt es an der gesamten Küste.
Nach dem Rechenmodell der Weser würde sich also das Deltamaterial nicht mit 2000 km² an der Mündung aufschütten sondern bei einer Vorlandungsbreite von 20 Kilometern eine Küste von 100 km Breite bilden können; und das nur für den Beitrag der Weser.

Fünf pysikalische Phänomene spielen zusammen und das Festland wächst nach der Eiszeit in die Nordsee hinein. Der Siedlungsraum wird neu geschaffen.

In vielen Erklärungen wird vom Vorrücken der See und ständigen Landverlusten gesprochen. Damit wird versucht die landfressende See als naturgegeben zu zeichnen, damit ist aber der angeschwemmte Neulandgürtel vor dem hohen eiszeitlichen Ufern nicht zu verstehen. Dies ist also eine beliebte falsche Weichenstellung in den Argumentationsketten die beim einen Mythos vom nassen Tod enden.

Der natürliche Vorgang ist also ein Vorrücken des Landes, das Modell ist aber noch zu grob, um auch die kulturelle Entwicklung der Küste zu erklären. Öffnen wir noch einige weitere Schubladen der Physik :

1.3 Fraktionierte Sedimentation

Ursachen und den einfachen Vorgang der Sedimetation kennnen wir schon. Jetzt wird der Blick genauer, denn die Neulandbildung an der Küste erfolgt unter weiteren physikalischen Bedingungen. Beschränken wir uns auf drei Faktoren, um das zu beschreiben.
1.Die Nordsee ist im Küstenbereich ein flaches Gewässer mit einem nach Norden zu gleichmäßig abfallenden Meeresboden.
2. Die Quelle der Sedimente ist das norddeutsche Tiefland, und hier gibt es nur grobe Sandpartikel und sehr feinen Ton (bekannt vom Töpferton).
3. Bewegtes Wasser hält Bodenkörnchen in Schwebe, wenn es bewegt bleibt. Wenn Wasser sich beruhigt, setzen sich die Partikel ab.

Uns interessiert besonders die Sedimentation der Schwemmfracht am Küstenrand und wir verfolgen kleine Sandkörner und trübes tonhaltiges Wasser. Ist das Wasser tief genug, dann wird die Bewegungsenergie durch Wellen und Tideströmung hoch genug sein, um alle Schwemmfracht in Schwebe zu halten.
Kommt das trübe Wasser in die Nähe der Küste, so wird die Wassertiefe geringer und damit auch die Wellenenrgie. Bei einer bestimmten Wassertiefe wird die Bewegung so gering, das sich schwerere Sandteilchen absetzen, der leichtere Ton bleibt aber noch in Schwebe. Es findet eine Trennung (fraktionierung) von Sand und Ton statt.

Kasten mit Wellenenergie

Das heißt, ein Sandkorn wird sich erst dann absetzen können, wenn die See flach genug ist. An der ostfriesischen und westfriesischen Küste ist dies genau der Bereich, in dem sich die sandigen Badeinseln gebildet haben. Der Sandbereich fällt bei Ebbe trocken und der Wind türmt den schnell getrockneten Sand zu Dünen auf. Durch die Dünen wird das Wasser zur Küste hin zusätzlich stark beruhigt, die Inseln wirken als Wellenschutz.

Das pysikalische Gesetz, nach dem Sand abgelagert wird, gilt natürlich entsprechend auch für leichtere Schwebstoffe, wie z.B. Ton. Diese brauchen, um sich als feine Schlickschicht ablagern zu können, noch stilleres Wasser als Sand. An der Sanddüne wird sich also kein Ton ablagern, sie bleibt Urlauber-wunsch-gemäß "sauber".

Schlick schichtet sich in ruhigeren Bereichen auf, dort wo die Küste besonders flach ist. Hier bildet es die bekannten Wattgebiete. Die im seichten Wasser weich und sandfrei sind. Natürlich gibt es Übergangsbeireiche in den Mischwatten, die sollen uns später beschäftigen.
Wenn nun aber diese Tone - die Marsch-Bildner - so beweglich sind, muß es verwundern, daß sie nicht schon von der nächsten Flut mit der Tideströmung wieder aufgewirbelt und abtransportiert werden.
Was hält sie? Wir kommen nun mit der reinen Physik nicht mehr weiter und finden in der Biologie des Rätsels Lösung:
Algen verkleben mit ihren Eiweißabsonderungen das feine Substrat, das sich sonst in der Tat wieder in der Weite der Meere verlieren würde. Das ist ein Effekt den wir vom Sahnebaiser und Kuchenbacken kennen.

Die getrennte Ablagerung von Schlick und Sand hat grosse kulturgeschichtliche Auswirkungen. Doch zunächst bleiben wir noch in der pyhisikalisch - biologischen Eigendynamik.
Der durch Tonsedimentation entstandene Gürtel vor dem Geestufer der Nordsee heißt zunächst Watt. Aber dabei bleibt es nicht.

Der Schlick schichtet sich in vielen Hochwassern auf, und es siedeln sich Pflanzen an, die in dieser salzigen Umgebung leben können: z.B. Queller. Diese Pflanzen beruhigen zusätzlich das Wasser und beschleunigen die Sedimentation der Tonteilchen. Deswegen lagert sich in dem bewachsenen Bereich schnell eine dickere Schlickschicht an, auf der danach wiederum andere Salzpflanzen wachsen können.
Es bildet sich zwischen dem tonigen Schlickwatt und der hohen Sandküste eine Salzwiese.


Bei dieser Beschreibung von der Entstehung der Nordseeküste spielen viele natürliche Besonderheiten zusammen wir nennen sie Ökosystemfaktoren, die ohne Zutun des Menschen existieren:
- Sedimenteintrag (Ton und Sand) durch die Flüsse
- Flache Nordsee
- Ebbe und Flut (Tide)
- Getrennte Ablagerung der Sedimente
- Sanddünenbildung durch Wind
- Algen fixieren das Schlickwatt
- spezielle Pflanzen siedeln sich im Salzbereich an
Würde auch nur einer dieser Ökosystemfaktoren fehlen, so gäbe es unsere Küstenlandschaft nicht in dieser Form!

1.4 Groden

Das Watt schwemmt sich - wie dargelegt - im Bereich der Küste selbst auf, und zwar so nachhaltig, daß die Flut die am höchsten aufgeschichteten Teile aus tonigen Schwebstoffen nur noch relativ selten erreicht. Während also das etwas tiefer gelegene Watt zweimal am Tag überflutet wird (720 Überflutungen im Jahr), beziehungsweise trockenfällt, tauchen die schon 4O cm höherliegenden Küstenstreifen nur noch rund 40 Mal im Jahr bei besonders hohen Fluten unter. Das eröffnet angepaßten, salztoleranten Grünpflanzen eine Existenznische: die Salzwiese entsteht. Es erscheint so, als wüchse Land aus dem Meer empor.

abb Salzpflanzen

Die Küstenbewohner nannten das Neuland denn auch Groden - die sprachliche Wurzel ist im Englischen (to grow: wachsen) noch deutlich erhalten.

Das Marschland schiebt sich stetig in die Nordsee hinein, mal mehr , mal weniger. Die eiszeitliche Küste war in Wirklichkeit nicht gerade und auch der Nordseeboden ist nicht gleichmäßig eben abfallend. Deswegen haben wir eine unregelmäßige Küste, an einigen Stellen ist das Marschland mehrere Kilometer voraus gewachsen, an anderen weniger. Auch verändern die Flussmündungen mit mäandrierenden breiten Trichterlandschaften den vereinfachten Blick.

Eine andere Komplikation ist nicht so leicht zu erklären: Die Marsch ist nicht nur in der Ausdehnung, sondern auch in die Höhe gewachsen. Wie konnten also die Marschböden eine Mächtigkeit zwei bis zu fünf Metern erreichen? Logisch wäre es doch, wenn die sedimentierten und von Algen befestigten Neuböden nicht in die Tiefe, sondern nur in gleichbleibenden dünnen Schichten nach Norden ins Meer hinaus gewachsen wären.

Die Schichtung in die Höhe erklärt sich daraus, daß die Küstenlinie aufgrund tektonischer Bewegungen langsam absackte - seit Christi Geburt handelt es sich hierbei um etwa 3,0O m. Die Abwärtsbewegung (durch Küstensenkung) arbeitet der Aufwärtsbewegung (durch Sedimentierung) entgegen. ((siehe Zahlen, Kasten ))

Die Mittlere Tidehochwasserlienie und die Höhe der Salzwiesenkante am Übergang zum Watt pendelt sich auf einen Gleichgewichtswert ein. Das ist etwa die Dicke der Wurzelpackung der Salzwiesenpflanzen mit 30 - 40 cm. Sinkt das Land ( oder steigt der Meeresspiegel) dann wird die Salzwiese öfter überschwemmt und wächst schneller auf. Sinkt der Meeresspiegel würde die Salzwiese weniger oft überschwemmt und bekäme entsprechend weniger neue Sedimente eingetragen. Ein Mangel an Sedimenten würde ein Aufwachsen verhindern, aber das gab es an der Küste offenbar nicht.

Abb

Kurzes Zwischenfazit:
Die beliebte Annahme, daß die See unerbittlich gen Süden drängt, sofern sich der deichbauende Mensch nicht in heroischer Aufbäumung dagegen stemmt, ist ein Mythos, ist Klitterung der Erdgeschichte.
Das Gegenteil macht Sinn: Die See hat sich, wie dargelegt, über die Jahrtausende per Sedimentierung selbst am Vormarsch gehindert. Die See schaffte erst mit Hilfe der Menschen katastrophale Einbrüche in die Marschküsten. Das festzustellen, ist im Lande der Deichgrafen schiere Gotteslästerung. Aber es ist wahrscheinlich, daß die sogenannten "Mannstränken" von Menschen verursacht waren - den Indizienbeweis führen wir in Kapitel 8. Zuvor empfehlen wir den LeserInnen, die natürlichen Gestaltungskräfte an der Küste noch etwas weiter zu ergründen.

1.5 Das Moor kommt dazwischen

Der Küstenstreifen ist nicht nur Sand (Geest) und Ton (Marsch), sondern auch Moor. Moor bildet sich in unserem regenreichen Nordeuropa überall dort, wo Grundwasser nicht ablaufen kann - sei es, daß durch Trennschichten der Kontakt zum Grundwasserstrom verhindert ist, sei es, daß Bäche und Flüsse keinen Weg finden, Oberflächenwasser abzutransportieren. Diese Voraussetzungen für Moorbildungen sind im Küstenbereich erfüllt - was einer naiven Betrachtungsweise erst einmal unlogisch erscheinen muß. Ist nicht das Land vor dem Meeressaum platt? Warum soll ausgerechnet hier im Flachland eine Mulde entstehen, aus der Wasser nicht abfließt? Was so klassisch platt erscheint, ist platterdings nicht gänzlich platt. Und der kleine Unterschied hat große Wirkung.

Die große Menge an Sedimentmaterial (vor allem Ton), das von Norden kommend auf die Küste zu transportiert wird, setzt die See bereits in den wattnahen Gebieten der schon breiteren Salzwiesengürtel ab. So kann das überspülende Wasser in den Gebieten, die weiter landeinwärts liegen, nur noch vergleichsweise wenig Sediment abladen. Es bildet sich ein flacher Uferwall, den ein ungeschultes Auge kaum wahrnimmt: etwa 2O cm hoch. Doch dieser Wall reicht aus, um den Rückfluß von Regenwasser aus dem Binnenland zu verhindern. Die Staunässe schafft das Milieu für Niedermoore. Die Zersetzung der Pflanzenpartikel zu Humus bewirkt in diesen abgegrenzten Arealen eine Versauerung des Bodens, so daß schließlich nur noch Moorpflanzen gedeihen können.
Das gestaute Regenwasser verdrängt den Salzwassereinfluss und Moose können wachsen.

(Zur Entwicklung dieser Küstenmoore siehe ...???)

Damit hat sich zwischen den zwei klassischen Küstenböden: der ursprünglichen eiszeitlichen Sandküste (Geest) und der aufgeschwemmten Marsch eine neue Landschaftsformation eingefügt: das küstennahe Moor.

Karte über alte Küstenrandmoore

Soweit die vereinfachte Darstellung der geologischen Küstenentwicklung.
Bisher spielt der siedelnde Mensch noch keine Rolle. Allein physikalische und biologische Vorgänge ohne Einfluss des Menschen haben zu der typischen Küstenformation (See-Watt-Salzwiese-Moor-Geest) geführt.

Aber die Küste hat sich nicht überall im gleichen Takt entwickelt, und der Mensch wird an manchen Stellen schon ausgeprägte Siedlergewohnheiten entwickelt haben, als an anderen Stellen noch Moore entstanden.

Im Folgenden entdecken wir diesen Siedlungsraum für den Menschen, ein Kunstgriff, der den Blick aus dem Winkel der Ökologie enorm vereinfacht.
Was also findet der Mensch vor, der an diese Küste kommt ?

2. Satt aber krank

Motive für die Besiedlung der Küste

Versetzen wir uns in die Rolle eines Potentiellen Siedlers und betrachten, was wir an der Küste vorfinden. Für eine Ausstellung zum Mythos vom nassen Tod haben wir dazu eine Balkenwaage gebaut, mit zwei Koffern als Wagschalen. Ein Koffen enthält Objekte die für Siedler interessant und wervoll sind. Die andere Seite der Waage enthält Ojekte für Gründe die gegen eine Besiedlung der Küste stehen.

Hier die einfach Auflistung:

Vorteile bei der Küstenbesiedlung Probleme an der Küste
Herscherloses Gebiet Mangel an Trinkwasser
Nahrung aus der See kein Brennholz
Nahrung aus der Luft kein Bauholz
Schafhaltung möglich feuchtes Klima (Rheuma)
Nutzbare Salzpflanzen kein Anbau von Süßwasserkulturen
schiffbare Prile Bedrohung durch Sturmflut
Seewege und schiffbare Prile Tidehochwasser und Springflut

Einige Begriff aus der Tabelle sollen vorab erklärt werden, es sind Ökosystemfaktoren, die auch das menschliche Leben betreffen. 2.1.Moor als Sperrgürtel:
Die Besiedlung der Küste musste von der Seeseite her erfolgen. Schliesslich lag eine wegefeindliche Moorlandschaft gewissermaßen als Sperrgürtel zwischen den fruchtbaren (wiewohl von der See gelegendlich überschwemmten) flachen Marsch-Küstenstreifen und der hohen und dünn besiedelten Geest. Das hatte für siedlungshungrige Menschen zwingende Konsequenzen. Sie konnten schlechterdings nicht das tun, was nahegelegen hätte, nämlich den Küstensaum vom Geestland (Binnenland) aus besiedeln; das verhinderte das Moor mit einer Unerbittlichkeit, die wir Heutigen uns angesichts kläglicher Moorreste nicht mehr vorstellen können.
2.2. Fruchtbare Küstenböden
Der Reichtum der Siedler gründete in der Nahrungsvielfalt der Marschländer: Fische, Vögel, Weideland. Es lohnt sich eine Grundlage für diesen Reichtum genauer anzuschauen, es ist der Bodentyp.

Tonboden hat durch seinen chemischen Aufbau hervorragende Möglichkeiten, Nährstoffe und Wasser zu speichern. Ton ist ein Schichtmineral. Der Schmiereffekt zwischen den Fingern entsteht durch das leichte Verschieben der Schichten. Die Zwischenräume sind mit Wasser gefüllt, in dem sich die Nährstoffe speichern können.

Ich benutze gerne das Speisekammermodell mit Nährstoffen, Luft und Wassen in der Ragalfächern: Abb Schichtmineral

Locker und luftig, mit vielen Speicherräumen für Nährstoffe, so müssen wir uns den Marschboden vorstellen. Aber, aber .. wir nun der kundige Leser einwenden, er ist doch so matschig und kompackt. Tatsächlich verdichtet sich der Marschboden, und würde tatsächlich unfruchtbar, wenn er nicht einmal jahrlich auf sehr elegante Weise gelockert würde.

Der Winterfrost sprengt die verdichteten Tonschichten auf. Die für Lehmböden typischen Polyederbrüche lockern das Erdreich wieder auf.

Abb

Pflanzenwurzeln können so immer in einem lockeren und gut belüfteten Boden wachsen. Die Überschwemmungen der Marschwiesen mit Salzwasser finden besonders im Winter, - außerhalb der Vegetationsperiode der Pflanzen - statt, stören also das Sommerwachstum nicht. Mit dem Seewasser erhält der Boden jedoch ausreichend Kalk und auch viel "Dünger" in Form von kleinen Meerestieren und Pflanzen ( Plankton, Algen etc) . Über die Bewirtschaftung und die Nahrungspflanzen später mehr ( Kap xxx )

Viele Lebewesen nutzten diesen Reichtum schon, bevor es der Mensch tat. Brutvögel und viele Zugvögel leben von der reichhaltigen Nahrung, die sich ihnen bietet; deswegen sind die Salzwiesen und Wattgebiete der Marschküste auch heute noch beliebte "Auftankplätze" der Zugvögel.
Zwei Millionen Vogelgäste (Alpenstrandläufer, Entenvögel, usw.) fressen eine Nährstoffmenge, die, in Kalorien ausgedrückt, für 200 000 Menschen reichen würde. Aber sie fressen die Speisekammer Wattenmeer nie leer, es bleibt soviel, daß sich die Vorräte bis zu ihrer Rückkehr regeneriert haben.
Auch die "Kinderstube" der Nordseefische ist nicht zufällig in den Wattgebieten. Die Aufzucht der Jungfische ist dort am einfachsten, wo die Nahrung im Übermaß vorhanden ist.

2.3. Salzwasser
Das Seewasser hat durchschnittlich etwa 3,5 % - Anteile Kochsalz gelöst. Der Mensch lebt mit einer Konzentration von 0,9 % Salz in seinem doch sehr wasserhaltigen Körper. Salz bewirkt durch Osmose die Stabilität unserer Körperzellen und durch elektrische Eigenschaften die Leitung von Nervenimpulsen. Wir sind auf eine geringe Salzzufuhr von etwa 3 - 5 Gramm pro Tag angewiesen. Zuviel Salz ist für den Menschen aber schädlich. Die Grenze der verträglichen Salzkonzentrationen liegt für den Menschen bei etwa 9 Gramm pro Liter Trinkwasser. Seewasser mit 35 Gramm pro Liter ist für uns schon sehr gefährlich und bringt Schiffbrüchigen, die Salzwasser trinken einen sicheren Tod.

Die sehr begrenzte Salzverträglichkeit teilen wir als Mensch mit vielen anderen Lebewesen und auch mit den meisten Pflanzen. Wir nutzen Salz als Mittel um Leben abzutöten, eben als Konservierungsmittel. Salz wurde in Europa um 1000 als Konservierungsmittel entdeckt und hat viele Städte berühmt und reich gemacht. Auch an der Nordseeküste wurde Salz gewonnen, dach davon später. Die See ist aber kein totes Meer ( xxx Gramm Salz pro Liter) sonder ausserordentlich belebt und voll mit Pflanzen, Algen und allen Arten von Wassergetier. Die haben aber nur eine Chance, wenn sie durch biologische Tricks mit dem Salz fertig werden.

2.4. Klima

Text fehlt noch

In der Waage - Bilanz haben sich Menschen entschieden an der Küste zu bleiben und die Probleme zu meistern. Der Reichtum an Nahrung war eben sehr verlockend.
Solch eine Spannung zwischen Vorteilen und Nachteilen am Wohnort muss auch Geschichten und Mythen erzeugen. So gibt es zu den fruchtbaren Marschböden den Mythos von den schwerreichen Marschsiedlern. "Das Gras in der Marsch", raunten sich die bettelarmen Geestbauern zu, "wächst dort so schnell, daß man die Sense nicht wiederfinde, wenn man sie am Abend vorher beim Mähen im Gras liegen ließe."
Von kupfernen Sieltoren wurde berichtet, und von einem Reichtum, der zu wenig gottgefälligem Leben verführte. Wen mag es da verwundern, daß zum Beispiel der Jadebusen-Einbruch von armen Neidern als göttliches Strafgericht gedeutet wurde.

Unsere Vorfahren haben die Vorzüge der Küstenmarsch genutzt und mit verblüffend einfachen Techniken die Probleme gemeistert. Das soll unser Thema im Kapitel 4 sein.
Doch zuvor die Frage: Woher wissen wir heute von dem Leben der Küstenpioniere, welche verlässlichen Quellen haben wir über das Leben der Friesen?

3. Quellen der Geschichtsforschung

An diese Stelle ist es ratsam sich Gedanken über Dokumente der Vergangenheit zu machen.

Menschen dokumentieren heute in jedem zur Verfügung stehenden Medium fast jegliche ihrer Lebensäußerungen. Künftige Chronisten werden es leicht haben.

Früher war es mit dem Schreiben und mit dem Konservieren von Geschichte nicht so einfach wie heute, und nur sehr reiche Leute konnten sich den Luxus einer Berichterstattung in eigener Sache leisten. Reise-"Schriftsteller" standen zudem meist auf der Soldliste des Militärs. Schon das verbiegt die Sehachse.
Der Römer Plinius ist einer der wenigen, deren Aufzeichnungen über die Bewohner der Marschküste erhalten sind. ((schöne Originalzitate, wenn möglich ergänzt mit kurzer Erklärung, warum Plinius notwendigerweise was falsch gesehen hat))

Später haben dann Vertreter der Kirche einige Erfahrungen und besonders auch Namen aufgeschrieben. Ihnen folgten die Amts-Schreiber der Grafen und Regierungen - Schreibprofis immerhin, wenngleich nicht gerade inspirierte Zeitchronisten. Doch alle Aufzeichnungen sind mit Vorsicht zu genießen; besonders die der Zugereisten und Durchreisenden. Sie kamen oft aus völlig anderen Landschaften und waren unfähig sich in das Leben der Küstenbewohner einzudenken.

Schreibkundige Kirchenmissionare haben zum Beispiel die Orts- und Familiennamen registriert; sie taten das offenbar mit frommen Assoziationen im Kopf: Was in einheimischer friesischer Sprache entfernt so klang wie Jerusalem wurde so zu Papier gebracht. In Butjadingen gibt es demnach auch ein Jericho! - Wollte hier ein frommer Schriftkundiger dem Herrgott die Referenz erweisen ? Oder: Wohnte ein Bauer beim Sieltief, also auf platt "bin siel" , so wurde sein Hofname erbarmungslos zu "Pinsel", verhochdeutscht. Eine Feldscheune ist auf Plattdeursch: "en Barg" (Bergeraum), "de buten" (draußen) "stait". In binnenländischem Deutsch wird daraus eine Butterburg. Wehe dem Heimatkundler, der daraus Rückschlüsse auf die historische Milchproduktion zieht! Ein hohes Maß an Skepsis ist auch angebracht, was die frühen Kartenwerke anbelangt. Zumeist ist der Name des Auftraggebers, der die Karte bezahlen sollte, genauer verzeichnet als der Verlauf von Ufern, Gräben und Wegen.

Fast alle Darstellungen der historischn Küstengeographie beginnen mit der Feststellung, daß die heutige Nordsee einmal Land gewesen sei und sich - so nachzulesen bei ( )) - stetig nach Süden vorgefressen habe. Daß dabei große Kulturen wie Atlantis oder Rungholt untergegangen sein sollen, macht die Geschichte nur noch spannender.

Atlantis / Rungholt

Erst der Mensch, so liest man es heute noch vorzugsweise in den Festschriften der Deichbauverbände, stoppte den Vormarsch der Nordsee durch Deichbau. Genau diese Annahme ist "Mythos", eine Gedankenblockade, die den richtigen Umgang mit der Natur behindert.

Es ist keineswegs so, daß die See unaufhaltsam vorgedrungen ist und nun mit dem Rest Europas ein gleiches vorhat. Die See hat sich tatsächlich immer wieder selbst den Weg an Land verbaut. Um das zu begreifen, betrachten wir einmal die Entwicklung der Küste in einem Zeitraum, der uns logische Erklärungen liefert, und beginnen nach der letzten Eiszeit (ca. 8000 v.Chr.).

Glücklicherweise haben wir noch andere Quellen, anhand derer sich die Entwicklung der Küste nachvollziehen läßt: Wir lesen in der Landschaft, mit Bodenart, Wasserläufen, Wetter und Vegetation. Und wir lesen in den kulturellen Eigenheiten dieser Region.

Eine interessante Frage ist, wer den Friesen den Namen gegeben hat. Für diese Bezeichnung, die Frei - Siedler bedeutet, braucht es andere Sachsen, die "unfrei" sind, sonst lohnt die Abgrenzung nicht. Die vielen "Sachsen" (Siedlungsgebiete) in Nordeuropa deuten auch schon auf eine informierte zentrale Registrierung hin. Hat die Zentrale die Friesen so benannt oder sind einzelne Siedler in ein Freigebiet hineingezogen, um den unfreien Siedlern zu entfliehen ?
Die Mythische Variante der Herkunft der Bezeichnung "Friesen" ist auch vorhanden. Die Wohlgestalteten edlen Menschen zeichneten sich durch einen gekräuselten HaarFRIES aus und wurden so zur Idealistisch mißbrauchten Vorstellung der Arischen Herrenmenschen.

Wenn wir in menschengemachten Zeichen lesen, begegnen wir immer wieder der Gefahr einer Mystifizierung . Aber sie ist gering, wenn wir uns als Übersetzungs- und Kontrollhilfe der Logik des Ökosystems Küste versichern. Diese Logik unterliegt in ihren Abläufen naturwissenschaftlichen Spielregeln und nicht der Ausdeutung durch den Menschen.

4. Menschen arrangieren sich mit der Natur an der Küste

Das Waage - Modell (kap 2) bilanzierte zwischen Vor - und Nachteilen einer Besiedlung der Küste. Menschen sind einfallsreich und Probleme werden gelöst, auch die unangenehmen Seiten der Küste als Lebensraum spornten zu technischen Lösungen an. Wir befassen und hier erst mit solchen Massnahmen, die natürliche Verhältnisse nicht erheblich beeinflussen.

Die folgenden 8 Beispiele finden historisch gleichzeitig vor 800 n.Chr. statt.
Es ist einfacher, die einzelen Aspekte getrennt zu betrachten:

4.1 Besiedlung der Küste durch die Friesen

Die Menschen, die den Küstensaum zu ihrer Heimat machten, konnten das nicht so geradlinig und folgerichtig bewerkstelligen, wie das hier in einer gerafften Darstellung erscheinen mag. Um die Sache nicht allzusehr zu komplizieren, klammern wir in unserer Beschreibung Kriege und soziale Konflikte aus. Sie sind für Historiker oft die führenden Leitgedanken und verstellen dabei den Blick auf die ökologischen Zusammenhänge. Hier gilt es aber nicht, die klassische Historie zu wiederholen, sondern neue Ansätze einer Geschichtsschreibung zu erproben.

Die Friesen waren geübte Seefahrer, sie mussten die Tide, Wetter und Untiefen kennen. Eine Aufgabe, an der auch heute noch Schiffsführer gelegendlich scheitern und stranden.

Auch kann ein Schiff nicht so ohne weiteres an die Küste fahren und anlanden. Das Wattprofil läuft gegen die Küste hin sehr flach aus und die Schiffe können nur bei Flut nahe an das Land heran. Sie müssen bei Ebbe gezielt auf Grund gesetzt werden. Bei steigenden Wasser dürfen sie sich aber nicht im weichen Schlick festsaugen, bei der nächsten Flut müssen sie wieder aufschwimmen.
Nach dem Aussteigen mußten die Menschen durch das flache Wasser waten (vielleicht kommt daher der Name: "Watt"). Idealer war es, wenn sie mit dem flachen Schiff in eine Prielmündung hinein fahren konnten und eine Aussenkurve eines mäandrierenden Prils fanden. Dort gab es tiefes Wasser und der Weg auf das Land war kurz.

In jedem Fall aber war das Anlanden nicht ungefährlich. Der weiche Wattboden und die Strömung der Priele ist tückisch. Wir trauen den Friesen diese Seefahrerleistungen zu, alte Berichte beschreiben sie als geübte Seefahrer.

Nahrungsbeschaffung kann kein prinzipielles Problem gewesen sein; schon im flachen Wasser konnten sich die Friesen bedienen: Plattfische, Garnelen und Kleinfische blieben bei ablaufendem Wasser zurück. Mit geübter Hand wurde Butt gegriffen, oder man hantierte mit einfachen Netzen, die durch das Flachwasser gezogen wurden. Jedenfalls war für das Essen gesorgt. Roher Fisch schmeckt nicht besonders, die Friesen werden den Fisch wohl nicht gekocht haben, weil es an Brennstoff an der Küste mangelte; sie nutzten die Möglichkeit des Räucherns. Mit wenig Holz und vier Stunden Zeit wird damit aus Fisch eine Delikatesse. Eine nicht uninteressante Frage: Hat möglicherweise Holzknappheit zur Erfindung der Räucher-Kulturtechnik geführt?
Kein Brennstoff erfordert das Eingraben von Fisch mit Gewürzen und Essig. Richtig gemacht ergibt das den edlen Gravlachs der uns heute noch als nordische Spezialität auf den Teller kommt.

Die Versorgung aus der Luft war auch attraktiv. Vögel boten zunächst von März bis Juli eine schmackhafte Palette verschiedener Eier aus den Brutnestern in der Salzwiese. In der übrigen Zeit der Jahres galt es, die Enten und Gänsevögel zu fangen. In der Zeit vor Erfindung des Gewehres bildete sich eine trickreiche Enten-Jagdkultur: Die Tiere wurden in Reusen (Netze) gelockt und dort gegriffen (Vogelkojen).

Es gab auch Vegetarisches zu essen. Heute noch wird in Niedersachsen Röhrkohl (Stranddreizack) gegessen, der auf den Salzwiesen wächst und schon im Frühsommer zu ernten ist. Queller aus dem Watt wird in der Normandie als Delikatesse auch konserviert in Gläsern verkauft.

Die ersten Besiedler der Küste kamen aus Bereichen mit Süßwasserpflanzen. Und sie kamen zu einer Zeit als das Wissen über Pflanzen sehr gross und durch die Kirchen noch nicht verdeckt worden war. Zu fast allen salzverträglichen Pflanzen gibt es im Süßwasserbereich entsprechende Arten und bei ähnlichen Pflanzen werden die Siedler ihre Erfahrungen der Pflanzenzubereitung auf die Salzwiese übertragen haben.

Mit diesem Blickwinkel finden sich auch viele Hinweise:
Fast alle Pflanzen der Salzwiese sind essbar, sogar Andelgrass müsste vom Menschnmagen verdaubar sein. Bekannt ist, dass unsere Vorfahren das Löffelkraut auf See mitgenamen, es ist reich an Vitamin C und verhindert Scorbut.
Auch Portulak ist ein altes Gemüse. Samenkörner wurden gesammelt,getrocknet und geröstet gegessen.
Zur Vorbeugung gegen Krankheit und zur Heilung sind Salzwiesenkräuter oft besser geeignet als ihre Süßwasservarianten. Zum Beispiel ist der maritime Wermut bekömmlich weil er weniger der für uns giftigen Stoffe enthält, er muss sich an diesem Standort nicht gegen Fressfeinde (zwei und vierbeinige) schützen.

Der eigentliche Reichtum der Region, ausgedehntes Grasland, war allerdings nur über den Umweg von Tiermägen zu nutzen.

4.2 Saisonale Schafwirtschaft

Die Salzwiesen sind wohl, seit Menschen sie als Kulturland nutzten, stets für die Schafhaltung interessant gewesen. Die Friesen waren Schafzüchter. Verarbeitete friesische Wolle soll damals ((wann)) in Europa ein gefragter Verkaufsschlager gewesen sein. Eine große Nachfrage vergrößerte die Herden. Aber das seenahe Grasland war kein ganz unproblematisches Weideland. Einige Besonderheiten der maritimen Natur erforderten spezielle Anpassungsleistungen von den Schafhaltern.

Viele Probleme lösen sich, wenn wir für die erste Besiedlung eine saisonale Schafhaltung annehmen:
Schafe wurden erst nach der Schafschur im Mai von der hohen Geest auf die Salzwiesen verschifft. Vielleicht konnte man bei einer Springflut (kurz nach Vollmond) auch bis an die Salzwiesenkante heranfahren, und die Schafe so vergleichsweise bequem entladen. Im Herbst, wenn das Gras weniger wurde, ging es wohl auf dem gleichen Weg zurück. Das Risiko für die Herden war kalkulierbar; Überflutungen der Salzwiesen waren im Sommer selten.
Aber trotzdem konnte es natürlich passieren, daß die Schafe bei einer überraschenden Augustspringflut bis zum Bauch zwei bis vier Stunden lang einen halben Meter tief im Seewasser standen.

Die Rechnung wird aufgegangen sein: Im Mai brachte man magere, geschorene Schafe auf die Salzwiese, vor dem Losbrechen der Herbststürme holte man fette, wollige Tiere zurück. Die Kalkulation wird in dem Maße sicherer geworden sein, wie es gelang, die Herde zu bewachen und nach Möglichkeit zu beschützen. Der Wert, den so eine Herde darstellte, ließ es geraten erscheinen, einen Schäfer bei den Tieren zu lassen, der sie zusammenhielt, Lämmer einsammelte und die Herde bei drohendem Hochwasser frühzeitig aus den gefährlichsten Bereichen heraustrieb.

Ein wichtiges Werkzeug des Schäfers wird ein Spaten gewesen sein, mit dem er eine flache Mulde anlegte, in der sich das Regenwasser sammeln konnte (denn Schafe brauchen neben dem Morgentau auf den Gräsern zusätzlich oft auch noch Trinkwasser). Die ausgehobene Erde, wird zum Aufwurf kleiner, erhöhter Flächen genutzt worden sein. Auf diesen Miniwarften werden er und seine Schafe dann nur noch von Fall zu Fall nasse Füsse, aber keinen nassen Bauch mehr bekommen haben.

Erdbewegungen sind in den Salzwiesen sehr einfach, denn die Grasnarbe läßt sich gut in Blöcken (Soden) abstechen und auch über größere Entfernungen tragen. Die Soden sind auf der Oberseite fest mit Gras verwachsen, so bleiben die flachen Hügel auch bei den Winterüberflutungen bestehen, der Boden erodiert nicht. Doch ein Schäfer ist nur so lange ein guter Schäfer, wie seine Gesundheit mitmacht. Gegen die Unbilden der Witterung mußte er sich schützen, da er ja von Natur aus keinen Schafspelz hat. So ergab sich die Notwendigkeit, eine Art von menschlicher Behausung zu bauen.

4.3 Hausbau auf Wurten

Zunächst gab es eine ganz einfache Hausbauweise aus wenigen Baumaterialien: Zwei Reihen von ca. zwei Meter langen Pfählen werden so in den Boden eingegraben, daß sie von selbst stehen. Dann werden sie oben mit waagerecht liegenden längeren Hölzern verbunden. Die etwa 30 Rundholzstämme, die erforderlich sind, um eine 3O m2 große Fläche zu überbauen, mußten von der Geest mitgebracht werden . Der Transport war denkbar einfach, man vertäute die Stämme hinter dem Schiff. Alle anderen Hausbaustoffe hielt die Natur vor Ort bereit. Das Dach wurde aus Schilf gefertigt. Das "Reit" wächst in jenen Prielzonen, die sich landeinwärts ziehen und relativ viel Regenwasser führen. Ein etwa 20 cm dickes Schilfpaket als Dach ist sehr stabil und wasserundurchlässig.

Das nasse Schilf ist auch schwer genug, um bei starkem Wind nicht davongetragen zu werden. Die Seitenwände des Hauses wurden zunächst wohl auch aus Schilf und später aus Weidenzweigen geflochten und dann mit Schlick (Lehm) verputzt. Beim Trocknen werden diese Lehmwände rissig und müssen also öfters ausgebessert und nachgeputzt werden. Als Tür wird ein Schaffell gedient haben.

Abb

Da es in der Marsch oft regnet und der Schäfer sich mit belebenden Heißgetränken (wann gab es den ersten Grog?) innerlich gegen die Kälte schützen mußte, werden die Feuerstellen wohl von Anfang an innerhalb der Häuser gelegen haben. Die lichte Höhe der Häuser muß also mindestens so beschaffen gewesen sein, daß das Schilfdach nicht anbrennen konnte. Die Haushöhe war aber auch bei Springfluten entscheidend, denn mindestens das Bett sollte so hoch liegen, daß es bei den sommerlichen Überflutungen der Salzwiesen nicht nass wurde. Vielleicht ist dieses urtümliche Streben nach der trockenen Lagerstätte der entfernte, aber durch die Baugeschichte weiterwirkende Grund für die recht hoch gelegenen "Alkoven"-Betten (siehe Foto) in den alten friesischen Bauernhäusern.

Wahrscheinlich sind immer mehrere Schäfer mit der Herde auf die Sommerweide gezogen und vielleicht waren auch Frauen und Kinder mit dabei, jedenfalls war es für solch eine Gruppe kein Problem, ein Haus in wenigen Tagen aufzustellen. Ein Neuaufstellen wird allerdings in jedem Jahr immer wieder notwendig gewesen sein; die Winterfluten werden allenfalls die eingegrabenen Ständerbalken stehengelassen haben.

Im Frühjahr begann die Saison folglich mit der Reparatur der Häuser.
Grabungen auf alten Siedlungsplätzen haben ergeben, daß die ersten Siedlungshäuser auf den flachen Boden gestellt wurden. Ein Indiz dafür, daß sie nur im Halbjahresbetrieb, im Sommer genutzt wurden - oder?
Die herkömmliche Erklärung dafür, daß die frühen Siedler offenbar ohne erhöhte Wohnpläze (Wurten) auskommen konnten, geht einfach davon aus, daß die Küstenabsenkung (Meeresspiegelanstieg) erst begann, nachdem die Siedlungsdichte schon beträchtlich war. Mit anderen Worten: Die frühen Siedler brauchten keine Wurten, auch hohe Fluten überspülten die Wiesen nicht und erreichten ihre Häuser nicht. Aber diese scheinbar schlüssige Deutung hat einen erheblichen Webfehler: Ein nicht überfluteter Marschboden ist nicht fruchtbar, eine Erfahrung, die wir erst nach der Eindeichung der Salzwiesen gemacht haben (vgl. Kap. xx). Er hätte keinen Anreiz geboten, sich den Unwägbarkeiten der Küstenlandschaft auszusetzen.

Die Wohnmöglichkeiten in der Sommersaison waren sicherlich auch für damalige Verhältnisse nicht komfortabel, aber eine Verlockung überwog die Einbuße an Komfort: die Leute hatten immer gut zu essen. Probleme gab es bei der Versorgung mit Getreide - es mußte mitgebracht werden. Und wenn es längere Zeit nicht regnete, wurde das Trinkwasser knapp.

Was sich hier an der Küste zu Anfang der Besiedlung im Wortsinne eingependelt hatte - die saisonale Nutzung eines Extremlebensraumes - kennen wir auch aus anderen Gebieten; man denke nur an die sommerliche Almwirtschaft. Daß Almwirtschaft nur in der warmen Jahreszeit und nicht unter drei Metern Winterschnee möglich ist, erscheint uns einleuchtend; daß die Nutzung eines ebenfalls herben Landstriches, wie es die Küste ist, in vergangener Zeit ebenfalls nur temporär möglich war, hat bisher noch kein Heimatforscher ernsthaft erwogen. Dabei war die Winterflucht per Schiff für die Marschbauern keinesfalls aufwendiger als die Winterflucht per Alm-Abtrieb.

4.4. Winterquartiere

Kultureller Fortschritt hat oft einen einfachen Stachel, der ihn in Bewegung setzt: die Suche nach einfacheren, bequemeren Lösungen. In dem Maße, wie den Schafhaltern das Hin- und Herreisen lästig wurde - der alljährliche Bau (bzw. die Reparatur) eines Sommerhauses ermüdete - , in dem Maße wie das Diktat der Jahreszeiten als unannehmbar empfunden wurde, intensivierte man die Suche nach Alternativen. War es möglich ganzjährlich zu siedeln - trotz harten Winterwetters und hoher Fluten?

Das kühne Vorhaben erforderte einige Neuerungen im Alltag: Zunächst mußte der Platz für die Häuser auf mindestens 1,5 m über Salzwiesen-Niveau erhöht werden. Erde wurde aufgeworfen, das Ergebnis waren die Wurten, künstliche Wohninselchen im Überflutungsgebiet.

Solche aufgeworfenen Erdhaufen werden in manchen Regionen auch nach ihrer Eigenschaft benannt "hoch" zu liegen, sie heissen dann Hallig oder ähnlich. (engl. Hill = Hügel)
Die Erdarbeiten erforderten vermutlich einige Sommerperioden, aber weil die Nahrungsversorgung dank Fischfang und Schafmilch, nicht so aufwendig wie im Binnenland war, fanden die Menschen die Zeit dazu.

Am Prinzip der soliden Trägerpfosten und dem regendichten Schilfdach gab es nichts zu verbessern; die Schwachstellen waren die Seitenwände: das lehmverputzte Flechtwerk aus Schilf. Schilf hatte zwar den Vorteil, daß es fast in Griffweite vorhanden war, aber die Winterfluten hatten mit dem Leichtmaterial leichtes Wellenspiel.

Nun boten die hochgelegenen Wurten aber auch den Bäumen eine Chance ohne Salzwasser in der Vegetationsperiode zu gedeihen.
Einige Baumsorten wie Esche und Weide vertragen Salz im Winter, andere wie Ahorn und Ulme werden auch dann geschädigt, wenn sie nur im Winter dem Salz ausgesetzt werden. Die Streusalzbelastung der Strassenbäume zeigt uns das heute deutlich. Auf den ersten Wurten werden schnell Weiden angesiedelt worden sein, sie haben mehrere Vorteile.

Zunächst bieten sie das Baumaterial für die Wände. Die langen Zweige lassen sich hervorragend flechten. So wurden die Schilfwände durch Weidenflechtwerk abgelöst. Zusätzlich dienten Bäume, die den Häusern Windschutz gaben, im Ernstfall auch als Wellenbrecher.

Ließ sich der Entschluß zum Ganzjahresbetrieb noch mit baulichen Veränderungen - zum einen Wurten, zum anderen Wände aus Weidengeflecht - realisieren, war ein anderes Problem von wesentlich grundsätzlicherer Natur und weitaus schwieriger zu lösen.

4.5. Ernährungm und Vorratshaltung

Die Winter waren feuchtkalt und Brennholz äußerst knapp. Nun wurde vor etlichen hundert Jahren an Frieslands Küsten nicht so viel brennbares Strandgut angetrieben wie heute. Der Nachschub von der hohen Geest über denn Seeweg wird daher zunächst unverzichtbar gewesen sein. Ein großes Transportproblem muß deshalb jedoch nicht entstanden sein; Schiffe, die Wolle und Schlachtschafe abholten, brachten als Leerfracht Bauholz und Brennholz aus dem Binnenland.
Die Vorratshaltung für Tier und Mensch für die langen Winter an der Küste warf ebenfalls keine unlösbaren Probleme auf. Als Winterfutter für die Schafe hatte man getrocknetes Salzwiesenheu.
Es lässt sich leicht trocknen - problemloser als das Binnenlandheu, das mehrfach gewendet werden muß. Salzwiesenheu trocknet auch dann ohne Komplikationen, wenn man es zu etwa ein Meter hohen Haufen aufwirft und unbewegt liegenläßt. Normales Süßwassergras würde unter diesen Bedingungen schnell gären und faulen.

An Salz, um Fleisch und Fisch zu pökeln, bestand naturgemäß kein Mangel. Die pflanzliche Winter-Frischnahrung könnte gepökelter Röhrkohl gewesen sein. Keine kulinarische Köstlichkeit, aber sehr nahrhaft. Trotzdem waren die Winter an der Küste wohl kein Vergnügen.
Dass wir wenig verlässliche Kunde über den Alltag der frühen Küstensiedler haben, ist nicht verwunderlich. Die Schäfer selbst konnten nicht schreiben - wozu auch - ; und die schreibkundigen Gelehrten verbrachten die rauhen Winter sicherlich nicht in der Küstenmarsch.

Kurzes Zwischenfazit: Die Nutzung der fruchtbaren, aber hochwasserbedrohten Marsch war auch ohne den Schutz hoher Deiche möglich. Das zeigt ein historisches Relikt aus jenen frühen Tagen: die Wirtschaft auf den Nordsee-Halligen, die heute noch jährlich bis zu 70mal überflutet werden. Der Preis, den die frühen Siedler zu zahlen hatten, war vermutlich chronischer Rheumatismus, aber keineswegs der sichere Tod durch Ertrinken. Als Seefahrer mögen sie vor allem Erdenklichem Angst gehabt haben, aber nicht vor dem Wasser.

Entscheidend für die frühe Phase der Küstenbesiedlung war die Entdeckung des Saisonbetriebes: Im Winter im Trocknen auf der hohen Geest und im Sommer auf den fruchtbaren Salzwiesen. Der Mythos vom "nassen Tod, den erst das Ingenium menschlicher Deichbaukunst so leidlich bannen konnte", hält näherer Prüfung nicht stand. Extensive Weidewirtschaft war schon früher möglich, weil die frühen Schäfer sich nicht gegen die Gewalt der See stellten, sondern sich mit ihr arrangierten und der See ihre fruchtbare Seite abgewannen.

4.6 Wege zu Wasser und zu Lande

Der friesische Kulturraum ist ausgesprochen weitläufig. Er erstreckt sich entlang der gesamten Nordseeküste von Harlingen in Westfriesland (Niederlande) bis Sylt in Nordfriesland (Schleswig Holstein). Fahren wir heute die Strecke mit dem PKW auf Landstraßen, sind wir mehr als 16 Stunden unterwegs. Das liegt nicht an dem müden PKW; der Landweg ist tatsächlich beschwerlich. Einige Flüsse (Weser und Elbe) müssen mit der Fähre überquert werden.
Wie kann sich in Räumen mit solchen Hindernissen und Distanzen eine gemeinsame Kultur entwickeln?

Während der ersten Küstenbesiedlung bis in das vorletzte Jahrhundert hinein existierten im friesischen Kulturraum fast ausschließlich Wasserstraßen. Landwege gab es nur für Fußänger oder Reiter. Die Schiffahrt erforderte in damaligen Zeiten überlebenswichtige Kenntnisse der Natur. Wetterlagen, Windrichtungen, Nebel, wechselndes Hoch- und Niedrigwasser und die Strömungen durch die Tide erfordern auch heute bei den Nordseeseglern hohes Können.

Die Orientierung auf See, die Navigation, war in küstennahen Gewässern, damals wie auch heute, fast immer mit auffälligen Strukturen und Zeichen an Land möglich. Als einfache Seezeichen dienen lange Stangen, die in den Schlick gesteckt, etwa fünf Meter hochragen und die Wasserstraßen markieren (Pricken)(Abb).

Diese einfache Technik schließt jedoch eine Seefahrt bei schlechter Sicht oder bei dunkler Nacht aus. Die Wasserstraßen gingen auch weit hinaus in die Nordsee. Fünfzig Kilometer vor der Küste liegt, für die Frieslande weithin sichtbar und zentral, die hohe Insel Helgoland. Sie war zur Friesenzeit ein wichtiger Stützpunkt der Küstenseefahrt, denn die friesische Sprache hat sich in der helgoländer Originalsprache (der "Halunder Sprak") gut erhalten.
Eine andere küstenferne Seestraße muß nach England geführt haben. Auch an der südenglischen Küste sind sehr viele Reste friesischer und plattdeutscher Worte im lokalen Dialekt erhalten geblieben.

Die "Straßenkarten" der See sind Seekarten. In vielen Küstenmuseen ist eine Flut älterer Küstenseekarten erhalten geblieben, nur haben sie alle das gleiche Problem: Sie sind für die praktische Seefahrt nicht geeignet. Die Darstellung der Wasserstraßen für die Zuidersee oder die Wesermündung (vgl. Karten) sind verblüffend pauschal und ungenau. Andere Karten haben einen zu großen Maßstab, mit dem die ganze Nordsee dargestellt werden kann, der sie als Orientierungshilfe vor Ort jedoch ungeeignet macht. Die Seefahrer haben wohl selbst keine Karten gezeichnet, weil sie keine nötig hatten. Und die Kartenzeichner waren vermutlich keine Seefahrer.

Landwege werden bei den frühen Siedlern nicht prinzipiell unbekannt gewesen sein. In den trockenen Sommermonaten und bei gefrorenem Boden im Winter kann man zufuß (ohne neuzeitliche Gummistiefel) leicht über die Marsch wandern. In den anderen acht Monaten, bei starkem Regen, nach der Schneeschmelze oder im feuchtkalten Herbst wird der Fußmarsch zur Qual: Klebriger Klei klumpt an den Stiefeln man fühlt sich wie mit Elefantenfüßen. Nasse, kalte Füße werden heute mit einem Fußbad, frischen Socken und einem heißen Grog wieder fit; aber damals waren sie mehr als nur eine Belästigung. Problematisch wird auch ein Ritt auf einem Pferd oder eine Kutschwagenfahrt gewesen sein. Der weiche Kleiboden hat die Eigenschaft, daß er bei mehrfachem Durchkneten unter den Rädern und Hufen butterweich wird. (Dieser physikalische Effekt heißt "Thixotropie".) Erst ab 1800 wurden an der Küste befestigte Straßen angelegt. Dazu diente der Backstein, den wir im Kap. ((??)) kennenlernen werden.

4.7 Handel

Gute Verkehrswege sind die Grundlage für intensiven Handel. Mit Schiffen wurden Textilien bis in den Mittelmeerraum exportiert. Wolle ist ein sehr haltbarer Werkstoff; sie wird bis heute vielfältig genutzt und historische Quellen dokumentieren Wege und Ausmaß des Handels. Bei archäologischen Ausgrabungen wurden Spuren der Wollweberei gefunden, die eine gut durchdachte Produktion vermuten lassen. Nadeln wurden in Serie aus Knochen hergestellt, und viele Webgewichte (handgroße Natursteine mit einem Loch darin) wurden in historischen Hausresten gefunden.

Später (um 1000 n.Chr.) exportierte man noch ein anderes Produkt aus der Küstenregion, das Salz. Das Seewasser mit etwa 3% Salzgehalt läßt man verdunsten und zurück bleibt grau und kristallin das begehrte Salz. Weil es jedoch an Sonnenwärme für Salinen oder an Brennholz für das "Salzsieden" fehlte, konnte sich die Salzindustrie an der Küste nur langsam entwickeln. Später entdeckte man, daß sich die Küstenrandmoore für die Salzgewinnung eignen und baute diesen Wirtschaftszweig intensiv aus. (Kap ???)

Die Größe der Kirche von Langwarden (gebaut 1100 n.Chr.) läßt den Umfang und die Bedeutung des Küstenhandels erahnen. Das heute erhaltene Gebäude hat über 500 Plätze und war zusätzlich zur vorhandenen Dorfkirche in der Nähe des damaligen Hafens ausschließlich für Handelsgäste errichtet worden ( - eine frühe Version der Autobahnkirche). Langwarden liegt heute binnenlands ohne Anbindung an eine Wasserstrasse. Die Weser hat in den letzten 500 Jahren ihren Mäanderbogen verändert und verläuft jetzt (seit 1850 mit massiver Hilfe der Menschen) am Bremerhavener Weserufer.
Wie auch technischer Fortschritt im Einklang mit der Natur gehandhabt wurde, soll das Beispiel des ersten Getreideanbaues an der Küste zeigen.

4.8 Graupen und Bier

Getreide kannten die Friesen ursprünglich nur als "Sparversion" aus ihrem Hinterland, der Geest, oder als Buchweizen aus dem Moor. Doch ihre ausgedehnten Reisen verschafften ihnen neue Erkenntnisse. So auch die, daß Getreide keineswegs überall so mickerig wie auf der Geest dastehen mußte; gute Böden lieferten reiche Ernten.
Aber offenbar war nicht jeder gute Boden Getreideboden. Das fanden die Friesen vermutlich in gezielten Versuchen heraus. Nur eine Getreidesorte, die zweizeilige Gerste, gedieh auf ihren Marschböden. Sie erfüllte zwei Bedingungen, die ihr - obgleich nicht von Natur aus salztolerant - das Wachstum im salzigen Milieu der Küstenlandschaft ermöglichten. Die zweizeilige Gerste wurzelt ungewöhnlich flach, in einem Bereich, den der Frühjahrsregen vom Salz ausgewaschen hat. Ein einziger Zentimeter an Bodenraum genügt ihr. Und sie hat eine ungewöhnlich kurze Wachstumszeit: Die knapp bemessenen Küstensommer reichen ihr. Vor den ersten Überflutungen, Mitte August, ist die Küstengerste erntereif.

Sie wird geschält, das heißt von den Deckblättern (Spelzen) und den Grannen (borstenartigen Haaren) befreit. Geschälte Gerstenkörner heißen Graupen ((erklären, was das ursprünglich heißt)) und entwickelten sich an der Küste zu einem Universal-Nahrungsmittel.
Es kann wie Reis gekocht und zubereitet werden. Alle alten friesischen Gerichte, wie zum Beispiel Grünkohl oder die Pinkelwurst, ((...))) sogar Buttermilchsuppe enthalten Graupen. Brot ist jedoch mit Geste nicht herzustellen, sie klebt zu wenig.

Gerste kann man auch noch anders verwenden: Man läßt sie ankeimen und röstet sie dann. Danach wird die Masse mit Wasser übergossen und vier Wochen stehengelassen. Eine Gärung setzt Geschmackstoffe, Kohlendioxid und auch Alkohol frei. Das Produkt ist bekannt: Bier. Das friesische Bier wir also von Anfang an ein Gerstesaft gewesen sein und nicht ein Bier aus Brotresten, wie es im Binnenland üblich war.

Der Gerstensaft diente den Friesen aber nicht nur dazu, mit angenehmem Glimmer leichter durch die nebeligen Tage zu kommen, er diente auch der aller notwendigsten Grundversorgung. Denn in den Marschen war man auf frisches Regenwasser angewiesen. Tiefbrummen waren nicht möglich, weil das Grundwasser salzig ist Regenwasser hält sich in offenen Gefäßen maximal acht Wochen. Als Brauwasser aber, im Bier mit Kohlendioxid versetzt, ließ sich das Getränk ein halbes Jahr lagern.
Die Konservierung von Wasser als Bier war auch schon in der Hansezeit bei Seefahrern bekannt und üblich. Hamburg galt als Bierstadt und man nutze in der Hansezeit schon den Hopfen weil er zusätzlich gute konservierende Eigenschaften des Getränkes hatte und so lange Seereisen möglich machte.

Man sollte allerdings nicht vorschnell annehmen, hier sei exemplarisch aus der (Wasser)Not eine Trink(Un)tugend gemacht worden. Das Bier jener Tage schmeckte schaal und hatte einen geringeren Alkoholgehalt. Für einen Vollrausch brauchte es eiserne Trinkdisziplin. Um den Geschmack einigermaßen erträglich zu gestalten wurde das Bier mit verschiedenen Zusätzen versehen. Hopfen als Zusatzstoff ist heute noch gebräuchlich, wenn auch Hopfen als Cannabispflanze sicherlich nicht nur den Geschmack verbessert, sondern auch etwas von der berauschenden Wirkung seiner Pflanzengesellschaft entwickelt. Eine noch stärkere Rauschdroge im Bier waren die kleinen Blätter des Gagelstrauches aus dem Hochmoor. Sie verstärkten das Glücksgefühl der Trinker so sehr, das spätere Herrscher damit Probleme bekamen. Der Kriegswillen wurde so sehr geschwächt, daß der Gagelzusatz im Bier verboten wurde.

Aber Gerstenanbau in unmittelbarer Nachbarschaft der See war eine kipplige Sache. Schon geringfügige Überflutungen bei der Vollmond- oder Neumondspringflut konnten eine Sommerernte vernichten - das geschah selten, aber wenn es passierte, konnte die See schon Existenzen bedrohen.
Die Friesen reagierten nicht anders als alle Menschen: Sie versuchten, den ständig wiederkehrenden Heimsuchungen einen Riegel vorzuschieben. Sie zogen mäßig hohe Wälle aus Erde um die Getreidefelder: Die ersten Deiche waren Gersten-Schutz-Wälle.

Die meisten Chronisten, so auch ((??)), sehen den Ablauf der Dinge umgekehrt: Erst als die Friesen so leidlich in der Deichbaukunst fortgeschritten waren, bauten sie Getreide an. Wäre dem so gewesen, fehlte eine Erklärung dafür, daß sie sich so lange mit der zweizeiligen Gerste begnügt haben. Hafer oder Weizen mit höheren Erträgen wären ohne Zweifel genauso früh an der Küste heimisch geworden wie anderenorts - wenn nicht der Engpaß der salzigen Böden gewesen wäre. Auch also es viel später möglich gewesen wäre in den bedeichten Flächen andere Getreidesorten anzubauen hat die Gerste ihren Platz in der Esskultur der Friesen behalten. Brot hat sich auch als zusätzliches Nahrungsmittel nicht durchgesetzt. Die Kultur der salztoleranten Gerste ist ein untrügliches Indiz dafür, daß dieses Getreide an der Küste eine ältere Geschichte hat als die Deiche.

Die "Gersten-Deiche" umschlossen die Felder kniehoch auf den Salzwiesen wie Schüsselränder. Sie waren nur hoch genug, um Sommerhochwässer abzuhalten, daher auch der Name "Sommerdeich". Das Seewasser, das im Winter in diese flachen Wannen schwappte, mußte abgeführt werden. Andernfalls hätten sich hier unerwünschte Salinen gebildet. Aber wie sollte man das lästige Winterwasser loswerden?

Die Verhältnisse erzwangen die Erfindung des Siel-Systems: Rohre aus Buchenholz untertunnelten den "Schüsselrand" (Ringdeich). Auf der Seeseite verschloß eine Fallklappe den Ausfluß gegen eindringendes Seewasser. Oder genauer: Die ankommende (auflaufende) Flut drückte die Klappe selber zu, versperrte sich so den Durchschlupf. Bei Ebbe fehlte dieser Gegendruck der See natürlich, so daß der Wasserdruck innerhalb des Ringdeiches ausreichte, um die Klappe wieder aufzustoßen. Der später gefundene technische Begriff für dieses genial einfache System heißt "Freiflut" und ist auch heute noch (mit technisch besseren Sielbauwerken üblich .
Ringdeiche lassen sich heute in manchen Feldgrenzen noch rekonstruieren, eine Arbeit von Rosemarie Krämer belegt ihre Existenz für den Bereich Sillens (Burhave-Waddens) in Butjadingen. (siehe Zeichnung auf Seite ...). Auch im Jeverland sind solche Ringdeiche untersucht worden.

Der Getreideanbau in einer Landschaft, die sich eigentlich - das heißt, von Natur aus - gegen anspruchsvolle Gräser wehrt, war ein erster Eingriff in das Küsten-Ökosystem durch den Menschen. Deichbau und Entwässerungstechnik machten ihn möglich. Geschadet hat er in seiner frühen bescheidenen Ausprägung sicherlich nicht. Schäden von dramatischer Dimension brachte eine andere Veränderung: der Zugriff des Menschen auf die Moore.

5. Der Übergang zur Neuzeit: Der Mensch wird mächtig

Die Bewohner der Küste konnten sich durchaus mit den lokalen Lebensbedingungen arrangieren, wie im vorangegangenen Text gezeigt wurde. Trotzdem hat sich etwa um 1000 n.Chr. an der Küste ein erheblicher Wandel vollzogen. Die Ursachen dieses Wandels sollen in diesem Abschnitt untersucht werden.

Änderungen in der Nutzung der Naturräume sind nichts Neues, wir kennen sie aus der heutigen Diskussion um die Landwirtschaft: die Alternative - extensive oder intensive Nutzung.
Vereinfacht dargestellt bezeichnet "Intensiv-Wirtschaft" eine sehr starke Nutzung, die den Boden hoch beansprucht und ihn zu schlechterletzt ausnutzt. "Extensiv-Wirtschaften" beschreibt mehr die Bewirtschaftung im Einklang mit der Natur. Intensive Weidewirtschaft arbeitet mit hohen Kunstdüngergaben und Import-Kraftfutter aus der Dritten Welt, sie meint Produktion die sich am Geldgewinn orientiert und viel Export; extensive Weidewirtschaft meint die klassischen Selbstversorgung und kommt ohne fremde Energiezufuhr aus.

An der Küste vollzog sich der Übergang von extensiver auf intensive Bewirtschaftung langsam und gleitend. Um von der sparsamen Bewirtschaftung zur perfekten Ausbeutung der Ressourcen zu kommen, bedurfte es etlicher "Basiserfindungen" und vieler kultureller Umschichtungen. Diese sollen im Folgenden skizziert werden.

In der Zeit des Wandels zur intensiven Nutzung des Küstenlandes, zwischen 800 und 1450 n.Chr., wechselte die politische Struktur und auch der religiöse Glauben der Friesen. Ein ursächlicher Zusammenhang kann vermutet werden. Deswegen betrachten wir diese beiden Aspekte etwas näher.

5.1 Christianisierung der Nordseeküste

Ungefähr im gleichen Zeitraum, in dem die Nutzung des Landes intensiver wurde, wandelte sich die Kultur in Europa: Das Christentum breitete sich aus (700 - 1200 n.Chr.). Hatte nun diese neue, küstenfremde Kultur Einfluß auf die Konflikte zwischen Mensch und Natur an der Küste?
Die historische Literatur liefert hier nur spärliche Informationen: Sie beschäftigt sich mit dramatischen Kriegen und Unruhen, die durch die Ausbreitung des Christentums ausgelöst wurden; wobei nicht selten alltägliche Fehden in den Rang von Glaubenskriegen erhoben wurden.

Nun hatten die Friesen keine absoluten Herrscher, die den Glauben befehlen konnten. Die Christianisierung der Küste verlief deswegen langsam und zunächst friedlich. Über eine friedliche Gesellschaft gab und gibt es, damals wie heute noch, wenig Berichte: Nachrichtenträchtig sind Kriege, Revolutionen, Aufstände.

Überliefert ist aber immerhin, daß die Missionare Willehardus und Benjamin um 780 n.Chr. an die Küste kamen und dort einige Zeit lebten. Aber offenbar konnten sie nicht viele Anhänger gewinnen; wurden (wie Benjamin in Varel) erschlagen oder flohen (wie Willehardus) nach Rom, um dann später einen zweiten Versuch zu wagen. (Willehardus starb in Blexen 789 n.Chr. an einer Krankheit).

Solche Daten sind für unsere Fragen nach dem Einfluß des Religionswandels auf Natur und Landschaft wenig brauchbar; deswegen sind wir auf einige Vermutungen angewiesen. Versetzen wir uns also in die damalige Lebenssituation und untersuchen die erste Frage: Waren denn die Friesen überhaupt religiös geprägt? - Wohl nicht allzusehr; jedenfalls sind keine originären Ur-Religionen überliefert. Ob die germanische Edda hier verbreitet war, ist nicht bekannt. Aber ein wenig religiös werden sie schon gewesen sein. Wer war und ist das nicht? Wir wissen nicht, ob der Glaube so dramatisch war, wie es in den Geschichten vom untergegangenen Rungholt (Gedicht von Liliencron im Kasten?) zu vernehmen ist. Und auch der Mythos vom Blanken Hans birgt einiges, das an die rachsüchtigen Gestalten aus Germaniens Götterwelt erinnert.

Religiöses Gedankengut, der Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte hat oft seine Wurzeln in dem Vorhandensein von Phänomenen, die der "vorwissenschaftliche" Mensch nicht unmittelbar logisch erklären konnte. Die Ursachen dieser großen "unerklärten Reste" wurden in höhere Welten und mächtigere Existenzen, als der Mensch sie ist, entrückt. Solche Naturphänomene gibt es auch in großer Zahl an der Nordseeküste. Gewitter, Wetterleuchten oder starke Stürme und Sturmfluten sind uns immer noch unheimlich.

Darüber hinaus hat die Küstenmarsch noch einige weniger gewaltige Überraschungen zu bieten: Der Schall kann an der Küste bei günstigem Wetter verblüffende Überreichweiten haben. Diese entstehen oft bei einer besonderen Luftschichtung, die wir Inversion nennen, wenn eine bodennahe, kalte Luftschicht eine glatte Grenzschicht zu der darüber liegenden Warmluft ausbildet. Auf den Wiesen ist dann das Widerkäuen der Rinder über weite Strecken zu hören. Natürlich transportiert der leichte Wind solche Geräusche noch zusätzlich weiter.1) Solche Stimmen aus dem Nichts waren für Menschen ohne Wissen über physikalische Phänomene sicherlich sehr präzise Beweise für die Existenz von Geistern.

Ein anderes verblüffendes Ereignis kann man nach der Schneeschmelze im Frühjahr erleben. Die Graswiesen sind nach dem Winter noch kurz, der Boden ist gut durchgefroren und porenreich, und er ist klatschnaß vom Schmelz- oder Regenwasser. Wenn nun jemand mit einem festen Hopser auf den Rasen springt, so klingt das entstehende Geräusch exakt wie ein Sprung ins blanke Wasser: Ein lautes Platschen begleitet den Aufprall. Daß zu einer bestimmten Zeit das Land typische Wassergeräusche von sich gibt, ließ sich leicht als Willensäußerung der Erde oder des Wassers deuten. Kommt einem das Wechselspiel von Land und Wasser an der Küste nicht rätselhaft vor, wenn sogar das Land wie Wasser platscht?

Besondere Denkmäler oder Berichte hat der vorchristliche Glaube der Friesen nicht hinterlassen. In den neueren Schriften geschieht die Charakterisierung ihrer Naturreligion meist sehr pauschal. So wird von einer Donar-Eiche berichtet, die an der Wesermündung beim heutigen Blexen gestanden haben soll, angebliches Heiligtum der Friesen. Es kann jedoch dort in der Marsch keine irgendwie bedeutsamere ältere Eiche gestanden haben. Eichen vertragen den Marschboden nicht, und auch wenn sich eine Eiche von der hohen Geest auf die niedrig gelegenen Wesersände bei Blexen verirrt haben sollte, das Küstenklima bietet keine Überlebenschancen für Eichen. Zugegeben, was wir hier auf der Suche nach der friesischen Religion betrieben haben, ist Stochern im Küstennebel - in einem längst vergangenem noch dazu. Plausibel dürfte gleichwohl die Annahme sein, daß eine mächtige facettenreiche Natur den alten Glauben täglich neu festigte. Die Überbringer des neuen christlichen Gottes hatten es sicher nicht leicht.

5.2 Missionierung

Diese frühen Missionare werden nicht als Alleinreisende gekommen sein, sondern in kleinen Gruppen. Die Ankunft von Fremden ist den Friesen, durch die Erfahrungen aus dem Welt-Handel, sicherlich nicht ungewöhnlich erschienen. Auch fremde Sprachen werden nicht verdächtig gewirkt haben. Einige Missionare sollen sie sich längere Zeit in England aufgehalten haben, und dort die englische Sprache, die dem Friesischen ähnlich ist, gelernt haben.

Im ersten Anlauf (um 800), soviel steht fest, haben die Missionare den Friesen ihre alten Götter nicht ausreden können. Erst 200 Jahre später, um 1000 n.Chr. konnte das Heidentum überwunden und das Christentum angesiedelt werden.

Fremde bringen nun nicht nur neue Ideen, sie bringen auch neue Waren, Erfahrungen und Gewohnheiten. Dieses Aspekt interessiert uns bei der Suche nach der Entwicklung der Kultur an der Küste besonders. Wie ist das gewachsene und gut funktionierende System an der Küste durch die Christianisierung verändert worden?

Zunächst haben sich die christlichen Missionare, um eine offene Konfrontation zu vermeiden, nicht in den Handelszentren niedergelassen sondern sich, wie viele andere Neusiedler auch, auf dem freien Lande gesiedelt.
Für die Landschaft am Westufer der Weser (Butjadingen) sind konkret zwei christliche Keimzellen belegt. Der Missionar Willehardus hat sich in Blexen am Westufer der Wesermündung niedergelassen. Dort wählte er einen Platz in der Innenkurve der mäandrierenden Weser. Solche Innen-Ufer sind flach, schlickig und als Anlegestelle oder Siedlungsplatz ungeeignet. Die Wahl einer solchen Randlage spricht eher für eine vorsichtige defensive Missionstätigkeit.
Die Christen haben neben Blexen einen weiteren, ebenfalls unproblematischen Stützpunkt aufgebaut. Sie siedelten in der Mitte des Landes am Rande der Ahne auf einer Gemarkung, die noch heute "Kloster Inte" heißt. Dort haben die Mönche Landwirtschaft betrieben und sich sozialen Aufgaben gewidmet.

Die Anfänge der Christianisierung verliefen also offensichtlich nicht so brutal wie nach der "Entdeckung" und Eroberung Amerikas. Die schon zitierte Eiche in Blexen muß für eine in ganz Europa oft strapazierte Geschichte herhalten: Es wird berichtet, daß der Missionschef die Eiche abholzen wollte. Die Friesen haben ihn hacken lassen, weil sie mit einem Racheblitz des Donnergottes rechneten. Leider schien gerade die Sonne, und so konnte Willehard in Ruhe Kleinholz machen und von der entweihten Kultstätte zeugt nur noch der Name Blexen, der auch heute noch oft mit "Blitzesheim" übersetzt wird. Weder der Name noch die Geschichte macht den Mythos wahr, genausowenig wie die Eiche vor dem ökologischen Blickwinkel Bestand hat, zerfällt auch der Mythos des Namens. Blexen meint nicht anderes wie der Wohnplatz, der auch andernorts in Friesland "Plassen" heißt.

5. 3 Wirtschaftliche Erfolge der neuen christlichen Religion

Aus der heutigen Diskussion um "Entwicklungshilfe" wissen wir, daß nicht die Religion allein überzeugt, die wirtschaftlichen Vorteile der Botschaft müssen für die Ureinwohner deutlich sein. Suchen wir also nach den ökonomischen Aspekten der Christianisierung: Zunächst werden sich die Christen niedergelassen und so ihren Erfolg als Siedlergruppe bewiesen haben. Gegenüber den Familienbetrieben der Einzelhöfe oder der großräumigen Bauernschaften hatten die damaligen Klosterkommunen schon deswegen Vorteile, weil sie die schwere Landarbeit mit mehreren kräftigen Männern erledigen konnten.

Wirtschaftlicher Erfolg ist auch heute oft ein Argument, für das man seine "Seele verkauft". Das andere Argument sind wohl die "Beziehungen" der Christen.
Als Fremde hatten sie selbstverständlich gute Kontakte zu ihrem Stammland, was den Nachschub von fremden Waren erleichterte und für die friesischen Waren die Märkte erweiterte. Solch christlicher Protektionismus hatte etwas Zwingendes für die friesischen Nachbarn: ein Gott, der Wohlstand gewährte, mußte stark sein.
Weiterhin haben die "Entwicklungshelfer" an der Küste technische Fertigkeiten, wie zum Beispiel den Holzbau, gut beherrscht.

Aus der Zeit des Kloster Inte gibt es einen hölzernen Zeugen, ein Sieltor. Man fand dort bei Baggerarbeiten 1983 ausgehöhlte Buchenstämme. Sie bildeten einen Tunnel von 12 m Länge und 70 cm Innendurchmesser. Die Röhre entwässerte eingedeichte Getreideanbauflächen in der Zeit um 1300 n.Chr. Ein Einlaufkasten und eine Sperrklappe am Auslauf der Röhre waren aus Eichenbrettern gefügt. Diese Röhre konnte sicherlich 10 Hektar Land entwässern. Ein Zeichen für die erfolgreiche Landwirtschaft der Mönche!
Die Hölzer waren nicht aus dem Küstenland, sie wurden inportiert. Von Heimatforschern wurde versucht mit der Denderochronologie (Altersbestimmung durch das Jahresringmuster) das Alter des Bauwerkes zu bestimmen. Der Versuch schlug fehl, vermutlich, weil der Ort an dem die Bäume gewachsen sind unbekannt ist.

Neben ihrer organisierten Arbeit in Gruppen konnten die Entwicklungshelfer noch einen wesentlichen Vorteil für sich verbuchen. Sie hatten Schreiben und Lesen gelernt. Mit der Kirchenzeit begann die Registrierung der Einwohner und es gab erste Berichte über die Landschaft. Originalschriften über Küstenland und Leute sind aus der Zeit der beginnenden Christianisierung kaum erhalten. In Archiven und Museen finden sich Schriften, die oft erst ab 1500 datieren. Der missionarische Blickwinkel der Mönche und Pastoren macht sie jedoch für eine Geschichtsschreibung mit Mindestanforderung an Objektivität nur bedingt geeignet.

(Ein weiteres Beispiel ist im Kasten wiedergegeben.)

5. 4 Feldzug gegen die Friesen

Neben der regionalen friedlichen Entwicklung der christlichen Siedlungen hat sich parallel in der Außenwelt Fürchterliches abgespielt. Kreuzzüge waren in Mode, an denen sich auch Friesen beteiligt haben werden. Bekannt sind die Kreuzzüge zur "Rettung" der heiligen Stätten der Bibel. Aber einer der Kriege unter den christlichen Feldzeichen fand 1415 an der Nordseeküste statt, er galt den Friesen selbst. Wie konnte das geschehen? Die Hansestädte wurden über See beliefert. Einer der Seewege führte an der friesischen Küste entlang in die Wesermündung nach Bremen. Bisweilen gerieten die Schiffe auch in Seenot, was den Küstenbewohnern eine willkommene Gelegenheit bot, sich an den Waren frei zu bedienen. Weil nun der Sturm zu selten Strandgut bescherte, half man ein wenig nach, veränderte die Seezeichen und lotste die Fregatten auf Grund. Diese Unsitte gefiel den bremischen Kaufleuten nicht, und sie fanden im Bischof von Bremen einen Freund, der ihnen half, die Friesen abzustrafen. Das Unternehmen wurde zu einem heiligen Krieg und fand so viel Zustimmung und Unterstützung, daß die wenigen Küstenbewohner im Jahre 1234 fast vollständig ausgerottet wurden. Die letzten starben auf dem heutigen "Friesenhügel" bei Langwarden.
Über die Überlebenden, die Restkultur oder das Schicksal der schon vorhandenen christlichen Missionsstationen ist nichts weiter bekannt.

Kriegerische Katastrophen dieser Art erschweren die Untersuchung der Landschafts- und Kulturentwicklung an der Küste. Aber sie machen sie nicht unmöglich, denn sie scheinen nur ein, wenn auch tödliches, Zwischenspiel zu sein. Die nachfolgenden Siedler haben die kulturellen Gewohnheiten der ausgerotteten Bevölkerung direkt übernommen und weiterentwickelt. Das Friesische lebte weiter - ohne Friesen.

Fazit: Die in Europa relativ späte Christianisierung der Weser/Jade-Friesen liegt wohl nicht - wie so gerne heimatgetümelt wird - im unbeugsamen Charakter der ehemaligen Küstenbewohner. Eine allgegenwärtige Natur war ein sehr fester Wurzelgrund für ihren Naturglauben. Außerdem konnten die Missionare hier nicht den leichten politischen Weg von oben nutzen: Es gab keine allmächtigen Fürsten, die man hätte überzeugen können, daß sie den Glaubenswechsel befehlen.

Die Erfolge der ersten Missionare waren sicherlich wirtschaftlicher Art, das mag die Attraktivität des neuen Gottes erhöht haben. Aber trotz all dieser ökosozialen Entwicklungen - weg von Donar, hin zu Christus - war es schließlich ein Vernichtungsfeldzug gegen die Strandräuber, der die Friesen der Urreligion ausrottete und damit die Etablierung des Christentums auf breiter Front ermöglichte.

Neben der schon beschriebenen Intensivierung der Landwirtschaft und der Ausweitung der Handelsbeziehungen sind auf die christlichen Einwanderer weitere Veränderungen der Kultur zurückzuführen, die im folgenden Kapitel berichtet werden. Dies sind zum einen der Bau der Winterdeiche und zum anderen die Baukunst mit gebrannten Steinen.

Die Christianisierung hatte also einen deutlichen Beitrag an der kulturellen Entwicklung der Landschaft an der Küste. Sichtbar ist dieser heute besonders im Dorfbild: Um die Kirchen herum hat sich der Handel angesiedelt, die Gaststätten und später die Wohnhäuser der alten Bauern, die ihren Kindern den Hof überlassen hatten (Altenteil). Kirchtürme Seezeichen den Weg zu den Handelsplätzen zeigen.

5.5 Politische Herrschaft an der Nordseeküste

Die Friesen werden in den Geschichtsbüchern als freies Volk dargestellt. Frei von einer knechtenden Herrschaft durch einzelne Personen ist damit gemeint, nicht etwa frei von der Notwendigkeit mit der Härte der Natur fertig zu werden. "Lieber tot als Sklave" soll ihr Wahlspruch gewesen sein, und weil es so schön markig klingt, ziert der Satz: "lever dood as slav" noch heute viele Wappen und Gemälde.

Fürsten oder Grafen des Festlandes konnten den Marschgürtel an der Küste mit ihren Soldaten nicht besetzen, weil ein breiter Moorgürtel ihn abriegelte (s. Kap. 4). Auch von der Seeseite drohte keine Gefahr einer Besetzung durch feindliche Invasoren, denn in der Seefahrt waren die Herrscher Mitteleuropas nicht versierter als die Friesen selbst.

Als zur Zeit Karls des Großen viele Regionen in Europa unterworfen wurden, um Geld und Soldaten aus ihnen herauszuziehen, hatten die Friesen sogar offiziell Sonderrechte bekommen: Sie konnten glaubhaft machen, daß von der Nordsee her die Küste durch Feinde bedroht sei, und nur sie selbst diese Küste schützen könnten. Deswegen wurden sie vom Militärdienst der damaligen Zeit befreit und ihre Autonomie nicht angetastet. So stammt der Name der Friesen spätestens aus dieser Zeit, die "free-sassen" sind die freien Seßhaften.

Frei von der Notwendigkeit, sich als selbstorganisierte Siedlergemeinschaft konfliktvermeidende Spieregeln zu geben, waren sie nicht. Überliefert ist das "Friesische Recht" (Asegabuch), das Regeln für die Streitereien des Alltags gibt. Als Schiedsrichter in Streitfällen wurden für begrenzte Zeit Personen aus den eigenen Reihen gewählt. An der südlichen Nordseeküste im Gebiet der "Sieben Frieslande" (Karte) waren es 16 Richter (Asegas), die sich regelmäßig am "Uptahlsboom" in Ostfriesland trafen. Dieser Platz ist auch heute noch ein Treffpunkt - für Ausflügler und touristische Wanderer auf Friesenspuren.

Strahlt dieser Platz auch noch historische Atmosphäre aus? Ich will es wissen und fahre mit dem Auto in kapp zwei Stunden hin. Vom Parkplatz an der Bundesstraße führt die Freizeitmüll-Spur zu einem Hügel: 10 m Höhe und 50 m Basisbreite. Einige Bäume und ausgetretenen Fußwege zieren ihn. Ein Hinweisschild auf die nächste Gaststätte und zwei Grillplätze runden die Anlage ab. Es braucht reichlich viel Phantasie, sich an dieser Stelle den jährlichen Rat der 16 friesischen Richter vorzustellen. Waren sie hier in der Einsamkeit (abhörsicher) unter sich? Wie haben sie sich bei Regenwetter geschützt und was hatten sie an Gepäck dabei ?

Nicht so ernsthaft, wie es Mythenforscher sonst tun, laufe ich mit einer Wünschelrute um den Hügel herum. Tatsächlich, er ist an einer Kreuzung von "Störlinien" gebaut. Das sind Stellen, denen man besondere geistige Inspirationen nachsagt. (Diese Störlinien sind für den Menschen sonst offenbar ungesund, denn man soll auf solchen Stellen nicht schlafen). Solche Kreuzungspunkte habe ich schon an den Bauplätzen vieler Kirchen gefunden. Das mag ein Hinweis auf die Bedeutung des Upstalsboom sein, ein Beweis ist das sicherlich nicht. Zufrieden mit dem Ergebnis, und weil es zu regnen anfängt, mache ich mich wieder auf den Rückweg. Die Erkenntnis bleibt, daß die authentische Geschichtsschreibung über die freiluftliebenden Friesen wohl kaum am Schreibtisch in geheizten Bürostuben, sondern eher auf einem Segelschiff, am Wattrand des Andelgrodens oder in einem naßkalten Gulfhaus gemacht werden kann.
So erscheint es mir noch heute rätselhaft, warum sich die seefahrenden Friesen nicht in Helgoland oder einem geeigneten Hafen getroffen haben, sondern weit ab von der Küste auf der Geest.

Doch zurück zur freien Selbstgerichtsbarkeit der Friesen.
Was so vorbildlich nach Demokratie aussieht, währte nicht lange: Nachdem das Rechtssystem über mehrere Generationen funktioniert hatte, kamen die Richter auf die Idee, sich nicht immer wieder neu wählen zu lassen. Sie vererbten eigenmächtig ihr Amt nach dem Vorbild der Binnenlandherrscher. (Spielt hier vielleicht auch das damalig "neue Christentum" eine unseelige Rolle?)

Die selbsternannten Richter-Häuptlinge gerieten in Streit, davon berichten viele überlieferte Dokumente. Der Unfrieden machte es dann später für die mächtigen Grafen des Binnenlandes leicht, die Frieslande zu vereinnahmen. Das geschah nicht in allen Teilen der Frieslande gleichzeitig, und wird in vielen Studien über die "Herrschafts"-geschichte beschrieben.

Diese Herrschaftsstrukturen haben sich an der Küste in einem Zeitraum entwickelt, in den auch der Übergang von der extensiven zur intensiven Nutzung des Landes fällt. Dies ist keineswegs zufällig so, hier besteht ein innerer Zusammenhang. Die neuen Fürsten und Grafen hatten zunächst einmal das naheliegende Ziel, aus ihrem neuen Einflußgebiet Nahrungsmittel, Geld und kräftige Soldaten herauszuholen. Damit festigten sie ihre Macht im Heimatort und sie können sich weitere Expansionsbestrebungen auch leisten.

Die neue Herrschaft an der Küste hat konsequent die Wirtschaft intensiviert. Mit Erfolg, denn die Grafen der Küstenregionen lebten in großem Reichtum: Die bis heute erhaltenen Kunstschätze in Ost- und Westfriesland geben uns einen Eindruck davon. (Schlösser, Schmuck, große Kirchen, Orgeln)
Reichtum macht blind, besonders blind gegen die Nöte der Natur. So hat die Natur auf die wirtschaftliche Aus-Nutzung der Küstenregion mit einigen Katastrophen geantwortet.

Nun muß der Fortschritt von "wenig" auf "reichlich" nicht in jedem Fall der Sündenfall sein, daß er es indes in der Küstenregion war, wollen wir im übernächsten Kapitel (8.) an einigen Beispielen verdeutlichen. Die Summe dieser Beispiele ist der Unterbau unserer These: Die Nordsee ist nicht Mordsee, der Mensch hat sie dazu gemacht - indem er ihr den Weg ebnete.

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Fußnote: 1) Dazu ein Beleg aus eigener Erfahrung. Ich stand abends bei Windstille nach einem sonnigen Tag an der Wattkante. Drei Kilometer entfernt lag vor mir der kleine Sielhafen von Eckwarden. Ich konnte durch eine Art akustische "fata morgana" ein Gespäch zwischen zwei Personen in Eckwarden mithören; und zwar in einer Deutlichkeit, als hätten die beiden neben mir gestanden. (Es war ein langweiliges Geplauder über Fischrezepte). ----------------------

6. Die Folgen der Ausbeutung und des Kampfes gegen die Natur - oder: Wie macht man Naturkatastrophen?

Erst im ausgehenden zweiten Jahrtausend scheinen wir einen elementaren Grundsatz der Natur zu lernen: Die Addition geringer Mengen an Belastungen eines Ökosystems kann schließlich den Umschlag in eine neue, andere, häufig katastrophale Qualität bewirken.

Deutlich ist das heute auch dem naturwissenschaftlichen Laien in vielen Beispielen wie in der Diskussion um den Treibhauseffekt. Mit den heute verdächtigen Gasen konnte die hauchdünne Erdatmosphäre über die Jahrmillionen umgehen; erst die menschliche Überdosierung bestimmter Schadgase rüttelt am Weltgebäude. Dieser Effekt - kleine Eingriffe, große Wirkung - existierte natürlich schon immer, nur eben unerkannt.

Es gibt besonders eindrucksvolle geologische Monumente für solche, in aller Unschuld selbstgebastelte Katastrophen: die Einbrüche der Buchten an der Nordseeküste. Sie sind - was im folgenden Kapitel zu belegen wäre - nicht Mahnmahl für die Opfer von blinder Naturgewalt oder von einer menschenmordenden See. Diese war nur auslösendes Moment, nicht aber der wirkliche Täter.

6.1. Der Einbruch der Buchten

An mehreren Stellen der Nordsee wölbt sich die See in die Landlinie hinein. In den Niedelanden und in Niedersachsen sind dies die heute noch deutlichen Formen der Zuiderzee und des Jadebusens. Andere Buchten wie die Harlebucht deuten sich nur noch in der Landschaftsformationen an. An der Küste Nordfrieslands sind die Entwicklungen vergleichbar, nur sind die Buchten so zusammenhängend, daß ein deutlicher Streifen von "Land" verschwand. Der Jadebusen ist sehr jung, er ist erst in seiner vollen Ausdehnung um 1450 entstanden. Es lohnt sich die Geschichte dieser Bucht als Beispiel zu untersuchen.

In der offiziellen Geschichtsschreibung der Küste heißt es, der Jadebusen sei durch eine Serie von mörderischen Sturmfluten entstanden. Dieser Fehlschluß wird dadurch, daß ihn offenbar der eine Chronist vom anderen abgeschrieben hat, auch nicht richtiger. Was sich heute so charakteristisch herzförmig, 200 Quadratkilometer groß ins Binnenland stülpt, die große Wattenmeer-Einbuchtung zwischen Wilhelmshaven und Eckwarderhörne, war einmal ein zusammenhängendes großes Moor, das durch einen Riegel salzigen Marschlandes von der See getrennt war. Das war, wie in Kapitel 4 dargelegt, die Normalsituation: Hinter den minimal aufgewölbten Salzwiesen und vor der hohen Geest bildete Staunässe im Laufe der Jahrtausende ausgedehnte Moorflächen. Normalerweise war die Sperre aus salzigem Marschland "hart" genug, um den Übergriff der See in die Moorregion zu verhindern.

Was aber heißt "normalerweise"? Warum hielt der Marschriegel vor dem Moor am Jadebusen, am Dollart, in Höhe der Leybucht nicht stand, so daß hier die bekannten großen Buchten entstehen konnten?

Eines ist auffällig: Funde von verlassenen Siedlungen in der heutigen Trichtermündung der Jade ((Hinweis auf Foto)) lassen erkennen, daß hier die Bevölkerungsdichte auffällig hoch war. Warum war es so attraktiv an dieser Stelle zu siedeln. Es gibt eine naheliegende Erklärung. Im Alltag der Siedler in der Küstenmarsch gab es einen klassischen Versorgungsengpaß: Trinkwasser war notorisch knapp. Flüsse und Bäche erreichten den Marsch-Küstenstreifen (aus den in Kapitel 4 dargelegten Gründen) nicht. Doch es gab einen beachtlichen Süßwasserspeicher in akzeptabler Entfernung von den Siedlungen: eben jenes Moor. Ausserdem konnte gleichzeitig mit der Nutzung von Torf dem Brennstoffmengen abgeholfen werden.
Es scheint plausibel, daß die Menschen Siedlungsorte bevorzugten, von denen aus der Weg zum Süßwasser und zum Brenntorf kurz war; mithin solche Plätze, an denen der Marschgürtel schmal war.

Im Bereich des alten Rüstringen, des heutigen nördlichen Budjadingen, ist der Abstand zwischen Moor und Nordsee an der schmalsten Stelle etwa acht Kilometer breit gewesen. Ein schiffbarer Priel war sicherlich vorhanden, er lässt sich heute aber nicht genau rekonstruieren. Damit war den Siedlern der Weg zum Moor sogar noch ein Stückchen verkürzt. Von ihrem Wohnplatz aus war es dann immerhin noch ein Fußmarsch von einigen Stunden, um Wasser und Torf zu holen.

Die Friesen werden die Unbequemlichkeit der langen Wege verkleinert haben, indem sie Stichkanäle und Moor-Entwässerungsrinnen anlegten; sei es als Viehtränken oder als Schiffstransportwege für Torf.
In dem Maße wie der Moor-Marsch-Grenzbereich wirtschaftlich interessant wurde, drängte es die Friesen, ihn - sagen wir es in der Un-Sprache heutiger Erschließer - "wegemäßig anzubinden". Der natürlichste Weg war für das Seefahrervolk immer der Wasserweg. Also verlängerten sie die Priele, die natürlichen "Wasserstraßen" für auf- und ablaufendes Wasser, bis hart an die Moorkante. Damit aber schufen sie der Nordsee Angriffspunkte.

Die ins Binnenland verlängerten Priele kanalisierten die Kraft normaler Springfluten und konzentrierten ihre Energie auf kleine Angriffspunkte am Moorrand. Hier bildeten sich mit den Jahren Ausspülungen, in denen das salzige Seewasser stehen blieb. Das war zunächst nicht unangenehm weil es die Schiffbarkeit der Kanäle verbesserte.

Und etwas Neues wurde möglich: Torf bindet Salz aus dem Seewasser, seine Struktur reichert die Salze sogar an.
Die Friesen kannten die Vorzüge, die salzgesättigter Torf bot: Aus der Asche von Salztorf ließ sich das unersetzliche Mineral 'Kochsalz' leicht gewinnen. Diese Entdeckung hat unzweifelhaft die systematische Abtorfung im Küstenbereich beschleunigt. Ein Aushöhlungsprozeß der Buchten lief nach diesem Start gewissermaßen von selbst ab: Je größer die vom Meer aufgefüllten Moor-Buchten wurden, desto ergiebiger der Salztorfabbau, desto einfacher aber auch neuerlicher Zugriff des Meeres auf die Moor-Seen.

Die Aus- und Abspülung des Moores hinter der Marsch fand nicht nur Stückchen für Stückchen, sondern auch Schicht für Schicht statt. Die Springfluten hoben zuerst das leichtere Hochmoor an, so daß es wie ein großes braunes Kissen auf dem Wasser schwamm. Ein Naturschauspiel das schon Tacitus ((Jahreszahl) , (evtl. hier Verweis auf Kasten mit entsprechendem Zitat)) beschrieben hat. Die Wellenbewegung zerbrach die aufgeschwemmte Hochmoorschicht in Inseln. Experten schätzen sie auf drei bis vier Meter im Durchmesser bei einer Mächtigkeit von 2,5O m Höhe.
Manche der Insel wurden mit dem Ebbstrom in die See hinausgespült.

Wie schnell nun das Loch im Moor größer geworden ist, läßt sich schwer rekonstruieren, vielleicht hat das Meer 300 Jahre gebraucht, um das Jadebusenmoor herauszuspülen. Die Geologen der Küste sind sich in etwa einig, daß die Ausspülung um 1000 n.Chr. begonnen hat und bis etwa 13OO n.Chr. abgeschlossen war.
Irgendwelche spektakulären Sturmfluten waren dazu nicht nötig gewesen. Die Theorie, daß fünf große Sturmfluten ((aufzählen mit Jahreszahl)) den Busen modellierten, wird besonders von historischen Landkarten-Zeichnern gepflegt. Aber es braucht keine markanten Daten, alles spricht dafür, daß sich das Meer kontinuierlich voranarbeitete, nachdem der Mensch einmal die entscheidende Starthilfe gegeben hatte.

Abb 6 Karten

Auch sind im Laufe der Küstenauflösung wohl kaum Leute zu Schaden gekommen, denn nicht das Moor war dicht besiedelt, sondern die Salzwiesen davor. Diese Siedlungen aber mußten verlegt werden noch während der Jadebusen entstand, weil sich die Jade als Zufluß zum Jadebusen durch die stärkeren Strömungen bei Ebbe und Flut ständig verbreiterte.

Der Jadebuseneinbruch fand jedoch auch von selbst ein Ende. Entweder war das Moor bis hin zur ehemaligen eiszeitlichen Sandküste abgetragen, so lässt sich das am Dangaster Sandstrand noch heute gut optisch nachvollziehen.
Oder aber die Kraft der Wellen erlahmte, weil die Bremswirkung neu entstandener Salzwiesen weitere Landnahme verhinderte. (Im Kapitel 3.4 haben wir dargelegt, daß sich die See, wenn man sie lässt, im Küstenbereich einen Gürtel aus angeschwemmtem Material, die Salzwiesen, zulegt.)

Daß auch die zweite Möglichkeit real ist, beweist ein Relikt: Das Sehestädter-Außendeichsmoor (Karte, Seite ...). Hierbei handelt es sich um einen letzten Rest des ehemaligen "Jadebusen-Moores", es wird heute von einer 5OO m breiten Salzwiese vor den frontal angreifenden Fluten geschützt. Das Sehstedter Moor wurde 1710 unter Regie des gleichnamigen Admirals ausgedeicht. Der schwere Deich hält es bei hohen Sturmfluten fest, so daß es aufschwimmen aber nicht wegschwimmen kann.

Was sich im Laufe eines runden Jahrtausends am Jadebusen besonders ausgeprägt ereignete, geschah in ähnlicher Weise auch anderenorts in West und Ostfriesland. Auch die Nordfriesischen Inseln, Föhr, Amrum, Sylt, Nordstrand, sind entstanden, weil Menschen dem Seewasser Zugang zum Moor verschafften und so einen stetigen Aushöhlungs- und Abschwemmungsprozeß einleiteten.
Die Landnahme durch das Meer muß aber nicht für alle Ewigkeit sein. Der Jadebusen würde in den nächsten 5OO Jahren zuschlicken, wenn wir ihn nicht daran hinderten. Der Mythos von der brüllenden See, die sich in spektakulären, menschenmordenden Überfällen ihre Bissen aus dem Land reißt, wirkt aus heutiger Sicht wie eine mit Anekdoten getarnte Flucht vor der Erkenntnis, daß es Menschen waren, die das Meer zu Übergriffen einluden.

6.2. Bau von Winterdeichen

Die Friesen waren jahrhundertelang ohne Deiche ausgekommen; einfach deshalb, weil sie sich nicht gegen die Fluten stemmten, sondern ihnen auswichen: Sei es durch saisonalen Weidebetrieb oder indem sie ihre Häuser auf künstlich geschaffene Hügel (Wurten) setzten. Erst die Notwendigkeit, ihre Gerstenfelder vor Sommerfluten zu schützen, lehrte sie den Deichbau.

Die ersten Deiche sollten, wie dargelegt, nicht Menschen vor dem Ertrinken schützen, sondern Gerste vor dem Absaufen. Und so muß es nicht verwundern, daß es, nach allem was sich historisch rekonstruieren läßt, nicht die Friesen waren, die auf die Idee verfielen, das Küstenland ganzjährig, also auch und gerade im Winter, vor Überflutung zu schützen. Der Anblick überfluteter Salzwiesen muß für die Binnenländer ein enormer Ansporn gewesen sein, hier "Neuland" zu gewinnen. Wasser war für die Landratten etwas Trennendes, Unangenehmes, während es für die Friesen etwas "Befreundetes" war: Transportweg, Fahrstraße für ihre Boote und außerdem noch Vorratskammer für schmackhafte Fische.

Vermutlich haben in Butjadingen die Mönche einer christlichen Missionsstation bei Inte mit dem Bau größerer Deiche begonnen. Warum? Vielleicht hatten sie sich über eine ungewöhnlich hohe Sommerflut geärgert, und begonnen das Wasser mit höheren Deichen auszusperren. Die angenehme Erfahrung, daß ein hoher Sommerdeich in der Lage war, auch relativ zahme Winterfluten auszusperren, mag dann die Idee gezündet haben, generell erhöhte Deiche aufzustellen, um ganzjährig trockene Füße zu haben.

Wie auch immer, die Erfolge der ersten hohen Deiche müssen sehr überzeugend gewirkt haben: Die Häuser wurden im Winter nicht mehr naß, rheumatische Leiden gingen zurück, es gedieh auf den Wiesen ein noch ertragreicheres Gras, und der Getreideanbau war nun auch mit anderen, anspruchsvolleren Sorten, wie bspw. Weizen möglich. Die Deiche ließen sich zudem fast ganzjährig als trockene, erhöhte Verkehrswege (für das Viehtreiben) nutzen, das Vieh war auf allen Weiden nicht länger hochwassergefährdet.

Und noch etwas Folgenschweres war nun möglich: Das Land ließ sich jetzt vermessen, exakte Besitzzuweisung wurde möglich, wo zuvor mäandrierende Priele die Feldgrößen willkürlich verändert hatten. Zunächst schien der Deichbau also nur Vorteile zu bringen, sieht man einmal von der Plaggerei ab, die das Aufschichten meterhoher Wälle mit sich bringt.

(Kleiner sprachgeschichtlicher Exkurs: Der allseits bekannte Ausdruck "Plaggerei" für eine schweißtreibende Tätigkeit stammt tatsächlich aus dem Deichbau: Plaggen, also durch Graswurzeln verbundene Erdplatten, wurden ausgestochen und transportiert; ohne mechanische Unterstützung ein echter Knochenbrecher-Job! Der Begriff "Deich" ist sprachverwandt mit dem englischen "digging", also "graben".)

Die Vorteile der Winterdeiche sind in der friesischen Geschichte sehr ausführlich gefeiert worden. Ich möchte sie hier nicht wiederholen, sondern die Probleme zeigen, die sich die Menschen dabei selbst geschaffen haben.

6.3 Sieltore und -tiefs

Die Nachteile einer universalen Deichung offenbarten sich nicht auf den ersten Blick, waren aber dennoch nicht von der Hand zu weisen. Ist erst einmal die Marsch durch einen Deich von der See getrennt, so kann das Regenwasser nicht mehr ungehindert abfließen. Das Land droht - nun von der anderen Seite her - abzusaufen. Das Problem fand eine technische Lösung. Es wurden Wasserdurchlässe, Sieltore, in den Deich eingefügt. Ein Klappmechanismus seewärts vor dem Auslaufrohr sorgte dafür, daß Wasser aus dem Binnenland ablaufen konnte, aufflutendes Meerwasser die Fallklappe aber verschloß. (Also die Fortentwicklung des Prinzipes, das schon von den "Gersten-Deichen" her bekannt war.) Dieser einfache Mechanismus reichte aber nur solange, wie die großen Entwässerungsrinnen nicht schiffbar zu sein brauchten. Aber von ihrer liebgewordenen Gewohnheit, mit dem Schiff zu reisen, wollten die Friesen auch unter veränderten Bedingungen nicht lassen. Grosse Handelsstandorte wie Langwarden verloren schlagartig mit der Eindeichung ihre Bedeutung, das kann nicht ohne Konflikte hingenommen worden sein.

Die Sieltore mußten folglich aufwendiger konzipiert werden, um Schiffen den Zugang zum Meer zu öffnen. Die Funktionserweiterung (nicht nur Entwässerung, sondern auch Transport) bewirkte auch eine Differenzierung in der Namensgebung: Im Binnenland hießen die großen, meist schnurgeraden Rinnen "Sieltief", im Außendeichsbereich blieb es beim alten Namen: Priel.

Die Sieltore boten noch einen angenehmen Gratis-Effekt. Das ausströmende Regenwasser spülte die Priele vorm Deich so gründlich und tief aus, daß sie auch bei Ebbe schiffbar blieben. Die Siele ermöglichten die Anlage von Häfen: Sogenannte Sielhäfen - später mit befestigten Anlagen und Hafenmolen.
Auch entwickelte sich eine Arbeitsteilung im Transport, einfache Boote brachten die Handelsgüter durch kleine Sieltore in die Sielhäfen. Dort wurde auf breitere und höhere Schife umgeladen.
Die Häfen Greetsiel, Karolinensiel, Harlesiel, Fedderwardersiel führen gewissermaßen ihren Geburtsumstand im Namen.

So genial, wie das kombinierte Entwässerungs-/Transportsystem der Sieltiefs auch erscheinen mag, es funktioniert nicht immer optimal. Wenn im Frühjahr zur Zeit starker Niederschläge das ablaufende Regenwasser gegen das Seewasser drängt, das ausgerechnet in dieser Zeit von starken Nordwestwinden gegen die Küste gedrückt wird, können sich die Sieltore nur jeweils wenige Stunden am Tag öffnen. Zu kurz, um alles Regenwasser in die See ablaufen zu lassen. Es bilden sich überflutete Wiesen hinter den Deichen, sogenannte "Lechten" (gesprochen mit langem "e").

Mit Windkraft und neuerdings mit Elektropumpen wurde und wird dem nassen Übel abgeholfen; denn überstaute Weiden verzögern den Viehaustrieb, verkürzen die Weidesaison, was wiederum zu Versorgungsengpässen im Winter führt. Auch die Aussaat von Getreide müßte sich verzögern, wenn nicht künstlich entwässert würde; die Ernte fiele dann in den feuchten Herbst, will sagen: Sie fiele schlimmstenfalls aus.
Der Fortschritt, den der Ganzjahresdeich (Winterdeich) brachte, hatte seinen Preis: Es mußte eine aufwendige Entwässerungs-Technologie entwickelt werden, die Geldmittel und Arbeitskräfte band. Die Infrastruktur wurde durch die Änderung der erreichbaren Häfen erheblich geändert.
Ein weiterer Preis ist weniger offensichtlich, aber nicht weniger hoch: die Verschlechterung der landwirtschaftlich genutzten Böden.

6.4. Bildung der Knickmarsch

Wieso "Verschlechterung"? Sollte man nicht annehmen, die Böden müßten sich ohne die beständige Salzdusche abrupt verbessern?
Die Frage läßt sich ohne einen Kurzausflug in die Bodenkunde nicht klären. Was geschieht mit den Böden hinterm Deich, die nicht mehr dem regelmäßigen Salzwasserbad ausgesetzt sind?
Gutes sollte man meinen, und gut läßt sich der Wandel auch an: Schon nach acht Wochen ohne Meeresberührung hat Regen die obere Bodenschicht von Kochsalz (Meersalz) freigewaschen. Süßwasserpflanzen verdrängen die Salz-Spezialisten.
Die Versorgungslage der pflanzlichen "Neusiedler" ist gut, denn der Boden enthält reichlich Nährsalze und Eiweißstoffe, ferner Phosphate und Kalk. Je tiefer die Böden von Meersalzen ausgewaschen werden, desto weiter können die Wurzeln der Nutzpflanzen ins Erdreich vordringen. Etwa ein Jahr nach der Eindeichung gibt es kaum noch Beschränkungen für den Getreideanbau.
Die Entsalzung der Böden erfolgt stufenweise. Zuerst verschwindet das leichtlösliche Kochsalz im Grundwasserstrom. Andere Mineralien wie Kalk sind sehr viel weniger löslich. (In der Terminologie der Chemiker: Die zweiwertigen Ionen lösen sich schwerer - also langsamer - aus dem Ton, der Ionenaustausch-Eigenschaften hat.) Erst nach rund hundert Jahren ist der Boden kalkfrei, so die Faustregel der Bauern hinterm Deich. Kalk ist natürlicher Dünger, sein Verschwinden verschlechtert die Ernteerträge.

Bliebe es nur beim Kalkmangel, ließe sich der Schaden noch verhältnismäßig leicht aus der Düngertüte beheben. Doch leider wird, wenn Kalk fehlt, nach (ein-ionigem/wertigem) Meersalz und (zwei-ionigem) Kalk, noch eine dritte Kategorie von Mineralstoffen ausgewaschen: (drei-ionige) Eisen- und Aluminiumsalze. Der Vorgang, den normalerweise Kalk als Säurebinder verhindert, ist nur dann möglich, wenn die Bodenversäuerung einen bestimmten Grad überschritten hat.
Ist dieser Punkt hundert Jahre nach der Eindeichung erreicht, werden Aluminium- und Eisensalz-Ionen beweglich und schwemmen rund 70 cm tief ins Grundwasser ab. Dort lagern sie sich in aufgequollene Tonschichten ein und bilden eine sehr fettige, meist bläuliche, wasserundurchlässige Trennschicht: den Knick. Der bewirkt, das sich darüber das nachsickernde Regenwasser staut. Der Grundwasserspiegel hebt sich, die Böden vernässen, sind unzureichend belüftet und bieten den Pflanzenwurzeln kein lebensfreundliches Milieu mehr. Die Erträge sinken, anspruchsvolle Pflanzen verschwinden, es entwickelt sich ein Niedermoor in der Staunässe.

Die Wiesen der alten, schon lange eingedeichten Gebiete in Butjadingen heißen "Wisch" , das bedeutet "nasses Land". Nachdem man die Ursachen der Knickmarschbildung erkannt hatte, propagierten die Landwirtschaftsämter als Lösungsvorschlag, die junge eingedeichte Marsch mindestens alle einhundert Jahre "gesundzukalken". Ich erinnere mich, daß auch mein Vater noch Mitte der 60er-Jahre sein Ackerland mit einer dicken Kalkschicht überzogen hatte, die mir wie Schnee im Winter erschien. (xy ??) Tonnen Kalk pro Hektar galten als übliche Dosierung bei solchen staatlich bezuschußten Brachial-Einsätzen.

Doch ist aber eine Knickschicht einmal stabil ausgebildet, dann ist auch mit Kalk nichts mehr zu retten. In diesen Fällen konnten die Knick-Wiesen nur per Hand vier "Spit" (Spatenstich) tief, also etwa 80 cm tief , umgegraben werden. Diese Technik wurde "rigolen" genannt. Pro Hektar wurden auf diese Weise in unsäglich mühseliger Arbeit 8000 m3 Erde bewegt. Der Slogan, meist mit dem Tremolo des Pionierstolzes vorgetragen "Eindeichen bringt fruchtbares Land", war vor der Erfindung der Kunstkalkung ein Versprechen, das nur für kurze Zeit eingelöst wurde. Schon die Enkelgeneration der Eindeicher stand vor dem wirtschaftlichen Ruin.

6.5 Nahrungsüberfluß für die Menschen

Wir kennen die Salzwiesen bereits als sehr nährstoffreiche Gebiete mit einer sehr hohen biologischen Produktion. Neben der guten Kalkversorgung bringt das Meerwasser z.B. auch Stickstoffverbindungen und Phosphate. In eingedeichten Gebieten binden die Gräser diese Nährstoffe schnell, und nach ca. vier Jahren muß der Boden systematisch gedüngt werden. Dazu wurde nun der Wintermist der Haustiere auf die Felder gebracht. Misthaufen wurden ja auch nicht mehr benötigt, um erhöhte Hauswohnplätze ( Wurten ) anzulegen. Bei geeigneter Düngung müssen die Erträge der Marschböden beachtlich hoch gewesen sein, denn der Ton bindet auch die jetzt durch Menschenhand aufgetragenen Düngerstoffe sehr gut und gibt sie langsam während der Wachstumsperiode wieder an die Pflanzen ab. Der Boden war zwar sehr schwer zu bearbeiten, aber wegen der guten Nährstofflage gab es genug Menschen in der Marsch, die auch gut satt wurden.
Die Marsch war in der Lage erhebliche Überschüsse zu produzieren, die dann verkauft und exportiert wurden.
Insgesamt war die Nahrungsversorgung der Menschen viel besser als in anderen Kulturregionen. Neben den guten Getreideerträgen gab es Nutzvieh mit Fleisch, Milch, Wolle und Fellen. Es gab weiterhin den Fischreichtum und technisch verbesserte Fanggeräte. Auch die Nahrungsversorgung mit Produkten aus der Luft ist technisch sicherlich perfekter geworden. Enten wurden in "Vogelkojen" gefangen.

Viele Menschen und viel Vieh benötigten aber auch viel Trinkwasser. Und das war einer der begrenzenden Ökosystemfaktoren. An brackigem oder faulem Trinkwasser sind sicherlich viele Menschen erkrankt. Im Winter war es an der Küste, wie auch heute noch, oft naßkalt und windig. Das sind gute Bedingungen für Rheuma und Erkältung, also war die Marsch trotz der verlockenden Erträge aus dem eingedeichten Land keine beliebte Wohngegend.

6.6. Eindeichungstechnik und Sturmfluten

Deichbau ist an der Küste mehr als eine notwendige Tätigkeit, er ist Religion - wer auch nur zaghafte kritische Anmerkungen macht, ist ein Gotteslästerer. Und da Deichbau immer eine Sache auf Leben und Tod war, genossen diejenigen, die sich auskannten, hohes Ansehen und Macht. Ihre Verdienste sollen hier nicht pauschal in Abrede gestellt werden, allerdings scheint es uns überdeutlich, daß sich unter dem weiten, mythenbestickten Mantel der Deichgrafen auch einiges an sachlicher Inkompetenz und fehlender Lernbereitschaft verbarg. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn nicht fehlende Fertigkeit immer wieder mit dem Tode, dem Tode Unbeteiligter und Unschuldiger bestraft worden wäre. Deichbrüche waren eigentlich nie das Resultat besonders wüster Attacken der See, sondern die Quittung für Schlamperei, Rechenfehler und mangelnde Beobachtungsgabe. (Na gut, die Wühlmäuse sollen auch ihr Fett bekommen!) "Kampf und Bewährung" war eine Lieblings-Sprechblase der Nazis und sie haben versucht, den Schimmelreiter von Theodor Storm in diesem (Un)Sinne braun zu färben. Dabei offenbart genaueres Lesen, daß der Deichgraf Hauke Haien durchaus kein verquaster Deich-Mystiker war, sondern zumindest ansatzweise, ein Kritiker der allzu schlichthirnigen Deich-Philosophie.

Textauszug

Auch in heutigen Tagen wird mit der Kampftradition "Kein Deich, kein Land , kein Leben" geworben und eingedeicht.

6.6.1 Deichhöhe

Für die richtige Berechnung einer Seedeichhöhe sind zwei Maßeinheiten wichtig: 1. der Hochwasserstand, doch er allein wäre ein trügerischer Indikator. 2. der Wellenauflauf, der in dem Maße eine Rolle spielt, wie die See von Stürmen bewegt wird.

Was ist Wellenauflauf? Eine Wasserwelle kann sich höchstens um den Meterbetrag über das normale Wasserniveau (bei unbewegter See) erheben, der zwischen Wasseroberfläche und Untergrund liegt. Ein Beispiel: Dort, wo das Meer eine Tiefe von 4 m hat, kann die Welle zu einer maximalen Höhe von 8 m über Grund (oder vier Meter über Fluthöhe) auflaufen. "Versucht" die Welle über dieses physikalisch vorgegebene Maß hinauszuwachsen bricht sie sich. Jeder Nordsee-Badegast kennt das aus eigener Anschauung: Sobald in unmittelbarer Küstennähe die Wasserhöhe unter der windbewegten Wassermasse zu klein wird, kippt die Welle um, und beschert den Badefreudigen die Brandung.

Wellen sind allerdings komplizierter als bloßes Hinschauen offenbart, sie sind mehr als umkippende Wasserwände. Die Physik stellt Wellen zutreffend als Kreisbewegungen dar, wobei der Mittelpunkt der Kreise stets auf der Höhe des Wasserstandes bei absolut ruhigem Wasser liegt. Zwei Bewegungen fließen ineinander: Zum einen besagte Kreisbewegung, zum anderen die Vorwärtsdrift der Welle. Für den Deichbauer ist dieser "Doppelcharakter" der auftreffenden Energie entscheidend wichtig. Er hat es eben nicht nur mit der gradlinigen Aufprallenergie zu tun, vergleichbar der Energie, die ein fahrendes Auto auf eine Leitplanke ausübt, sondern zusätzlich mit Rotationsenergie. Um im Bild zu bleiben: Auf die Leitplanke (den Deich) prallt ein beschleunigtes Etwas, das nicht nur vorwärts gerichtete Bewegungsenergie hat, sondern auch noch den Schwung eines rotierenden Kreisels - so als flöge ein schnell rotierendes Kreissägeblatt gegen ein Hindernis. Unschwer zu erkennen, daß der Deich mehr auszuhalten hat als nur den durch Wind aufgebauten Wasserdruck.

Dieses "Mehr", die Wucht der Kreiselbewegung, fängt die Grasnarbe ab, sofern sie gut und fest ist. Aber auch wenn die Energie der Hochwasserwelle an der Deichkrone nach allen Gesetzen der Physik und der Deichbaukunst perfekt aufgefangen wird, ist nicht jegliche Gefahr gebannt. Auch die Rückseite eines Deiches ist gefährdet. Bei starken Sturmböen peitscht die Gischt einer Welle über den Deichkamm hinweg und durchtränkt die Rückseite des Deiches - etwa so wie ein starker Dauerregen das Erdreich breiig werden läßt. Die gesamte Grasnarbe auf der Landseite der Deiche rutscht dann ab. Tatsächlich sind viele Deiche "von hinten" gebrochen.

Deiche, die diesen Anforderungen genügen sind imponierende Bauwerke. Sie ragen heute etwa 6 m über Salzwiesen-Höhe auf. Aber müssen Deiche in jedem Fall so hoch sein? Wie steht es mit Deichen, die neu errichtet vornehmlich der Landgewinnung im Vordeichland dienen? Gehen wir davon aus, daß ein stattlicher Deich vorhanden ist, der sturmflutsicher das Hinterland schützt. Vor diesem Deich soll eine 1 km breite Salzwiese zwecks Landgewinnung "vor"gedeicht werden. Wie errechnet sich die Höhe des neuen Deiches, der genauso zuverlässig wie der Alte sein Hinterland salzwasserfrei halten soll? Dieser Deich steht mit seiner Sohle etwa einen Meter tiefer als der alte, weil unsere Salzwiese (um die Sache rechnerisch zu vereinfachen) ein Gefälle von einem Meter zwischen altem Deich und Wasserlinie hat. Also den neuen Deich einen Meter höher als den alten bauen? Das Ergebnis wäre sicher ein Deichbruch! - Warum?
Die Hochwasserhöhe, die beim alten Deich genau (und damit regelgemäß) die Hälfte der Deichhöhe betrug, beträgt weiter seewärts deutlich mehr als die Hälfte - einfach deshalb, weil die Basis des Deiches weiter draußen tiefer liegt. Entsprechend würde der Wellenauflauf in unserem Rechenbeispiel die Deichkrone überfluten

(siehe Graphik ....)

Noch etwas muß der Deichbauer bedenken: Im weichen Schlickwatt, das gerade erst von Pflanzen oberflächlich befestigt wurde, sackt ein schwerer Seedeich ein - in 50 Jahren bis zu 2 m. Fazit: Wenn der alte Deich eine zureichende Höhe von 4 m hatte, wird der neue auf 8 m Bauhöhe aufgetragen werden müssen, die sich dann in den folgenden Jahren auf 6 m senken wird.

Die Konsequenzen für den Bau eines Normaldeiches mit einem Böschungswinkel von 45° sind beeindruckend. Bei Verdoppelung der Deichhöhe vervierfacht sich die benötigte Erdmenge. Die Kosten für den Deichbau steigen, aber ebenso die Zeit. Weil das Wetter im Jahr nur wenig Chancen für die Erdbewegungen gibt, ist dieser Aspekt vielleicht sogar ausschlaggebend.

Vieles spricht dafür, daß die Deichbauer vergangener Jahrhunderte diese einfache rechnerische und physikalische Aufgabe nicht bewältigt haben. Sie gingen in ihren Berechnungen von den relativ niedrigen Deichen weit im Binnenland aus. Hatten die nicht immer ausgereicht?

Sicherlich! Also würden vergleichbare Deiche doch wohl draußen an der neuen Küstenlinie ebenfalls reichen! Und hier eben liegt der Irrtum. Den Deichbauern früherer Jahre blieb verborgen, daß das Niveau der neuen Salzwiesen um etliches unter dem der alten Salzwiesen (die inzwischen schon jahrhundertelang Weideland waren) lagen. Ihre Neu-Deiche waren notorisch zu niedrig. Ihre neuen Deiche waren eine Einladung an den nassen Tod, die mehrfach angenommen wurde.

Vergegenwärtigen wir uns die Jahreszahlen von Neu-Eindeichungen und Deichbrüchen, drängt sich dieser Zusammenhang auf. Katastrophale Einbrüche der Nordsee folgten im Abstand von wenigen Jahrzehnten den Neu-Eindeichungen.

Vieles spricht dafür, daß die klassischen Flut-Katastrophen der Küste - Magarethenflut (....), Clemensflut (...), Weihnachtsflut (...) auf menschliches Versagen zurückzuführen sind, oder, um es noch schnöder zu sagen, auf Rechenfehlern und mangelnden Kenntnissen über die Physik von Wasserwellen und die Statik schwerer Bauwerke auf weichem Grund basieren.

Deiche hatten besondere Schwachpunkte. Die lagen zumeist da, wo sich die Deiche nach außen hin öffneten, um großen Entwässerungskanälen den Weg in die See zu öffnen. Die Rede ist von den Sielhäfen. Wie schon dargelegt (Seite ), tiefte der beständige Süßwasserstrom in den Prielen die Fahrrinne ein. In diesen künstlich geschaffenen Tiefwasserbereichen konnten sich nun Wellen aufbauen, die (anders als im umgebenden Watt) den Deich ungebrochen erreichten und mit entsprechender Wucht auf die Schwachstelle im Deich - das Sieltor - trafen. Diese Gefahr war dann besonders drohend, wenn der Verlauf der Priele vor dem Sieltor den herandrängenden Wassermassen eine gerade, lange Anlaufstrecke bot.

6.6.2 Häuser ohne Wurten

Um es noch einmal zu sagen: Der nasse Tod, etwa bei der großen Weihnachtsflut von 1717, war real und er war tragisch.
Tragisch auch im klassischen Sinne der griechischen Tragödie: Er war nicht unvermeidlich. Er war - wie dargelegt - das Resultat einer unterentwickelten Deichbaukunst und einer gewissen Naturvergessenheit. In den feuchten, vergangenen Tagen, als die Vorfahren jener Menschen, die 1717 ertranken, noch ohne Deiche in unmittelbarer Küstennähe im Sommer die Marschwiesen bewirtschafteten, wußten sie die Kräfte der See einzuschätzen. Sie setzten ihre Behausungen auf kleine, eigens angelegte Hügel (Wurten).
Das schien den Nachfahren im trügerischen Schatten der Deiche entbehrlich, zumal die Neusiedler häufig Zuzügler aus dem Binnenland waren, die keinerlei gewachsene Beziehung zur See hatten.

Abb vergleich

So war es auch nach 1648. Nach der Eindeichung des östlichen Jadebusens (siehe Karte Nr.) siedelten südlich des heutigen Stollhamm viele Neubürger ohne Wurten auf flachem Boden. Systematische Neuansiedlungen in den eingedeichten Gebieten war üblich. Die Häuser standen mindestens 2,50 m niedriger als die der angestammten Bevölkerung auf den Wurten. Das aber hieß bei Sturmfluten wie der von 1717 sie erreichen Dachfirsthöhe, und nicht halbe Stubenhöhe, bei der die Alkoven-Betten trocken blieben. Die 2,50 m Höhenunterschied markierten in den Weihnachtstagen von 1717 den Unterschied zwischen Leben und Tod. Die überraschten Neubürger in der frisch eingedeichten Marsch starben zuhauf an Erfrierungen oder später an Lungenentzündung.

6.7. Malaria Sterben oder Abwandern - die Umschichtung der Bevölkerung in den eingedeichten Marschen

Mit der Eindeichung der Marschwiesen griff der Mensch in ein stabiles, funktionierendes Ökosystem ein und veränderte es grundlegend. Davon hatten sich die "Täter" natürlich Vorteile versprochen, und ihre Erfolge (mehr Sicherheit vor Hochfluten) werden auch immer wieder in der Geschichtsschreibung gefeiert.
Jeder Eingriff in ein stabiles Ökosystem, so wissen wir es heute, hat viele kurz- und langfristige Auswirkungen. Verheimlichen wir also nicht länger die Nachteile, denn eine nüchterne Bilanz der Eindeichung fügt dem Heldengemälde ein paar Schlagschatten bei.

Die Eindeichung der Salzwiesen hat nicht nur für den Menschen günstigere Überlebensbedingungen geschaffen, sondern auch für einen Krankheitsüberträger, der dem Menschen den Garaus machen konnte: für die Malariamücke. Wie konnte sich diese scheinbar nur-exotische Krankheit an der Küste hinter den Deichen entwickeln? Nach der Eindeichung der Salzwiesen wurden sie im Winter nicht mehr überflutet. Damit wurden auch die ehemaligen Priele und niedrige nassen Senken nicht mit Salzwasser durchgespült. Das Wasser blieb hier brackig stehen. Das alte Salzwasser wird im Boden nicht von Süßwasser verdrängt, weil es schwerer ist. Das frische Regenwasser läuft also oberflächlich ab und wenn das Salzwasser (altes Grundwasser)zu hoch ansteht stellt sich keine Süßwasservegetation ein. Wegen der fehlenden Winterfluten sind die Senken andererseits nicht salzig genug für die Salzpflanzen. So gedieh eine Pflanze, die auf Brackwasser spezialisiert ist: das Schilf. Nach der Eindeichung muß es hinter den Deichen sehr große Schilffelder gegeben haben; in Butjadingen am alten "Hajenschloot" waren es mehr als hundert Hektar.

In Schilf haben sich nicht nur Vögel wohl gefühlt, sondern auch Mücken. Diese kleinen Insekten sind die Wirtstiere für den Malariaerreger. Wird ein Mensch von einer infizierten Mücke gestochen, so überträgt sich die Krankheit auf ihn, und er wird nach einiger Zeit von Fieberschüben geschüttelt. Das Fieber ist zuerst gering, dann nach jeweils regelmäßigen Pausen von etwa drei bis vier Tagen wird jeder Fieberschub stärker. Ein Mensch mit schwacher Konstitution stirbt schnell, ein Mensch mit guter Gesundheit kann sie überleben, im besten Fall bricht die Krankheit erst gar nicht akut aus.

Die Friesen nannten die Malaria "das kalte Fieber", wegen der regelmäßigen Fieberpausen. Sie erkannten die Zusammenhänge zwischen Entstehung und Ausbreitung der Malaria-Epedemien nicht. Und auch uns erscheint es heute befremdlich, wie eine solche Krankheit, die wir nur in den Tropen vermuten, an die kalte Nordseeküste gelangt ist. Vielleicht waren die Friesen bei ihren ausgedehnten Seefahrten so weit herumgekommen, daß sie einige infizierte Mücken als blinde Passagiere in die Heimat importierten. Die Mücken, die ja nicht winterfest sind, müssen die Krankheit dann auf heimische Mückenarten übertragen haben. Und Mücken gab es in den Schilfsümpfen genug.

Nun grassierte die Malaria nicht regelmäßig Jahr für Jahr, es traten in den eingedeichten Regionen der Küste Epedemien auf. Eine genauere historische Untersuchung über Ausbreitungsmuster und auch die Zahl der Malariaopfer ist in Arbeit. Lange Zeit vermutete man als Ursache des "kalten Fiebers" gefährliche Ausdünstungen der Böden (so als würde man auf einer Sondermülldeponie leben). Eine Stellenausschreibung für eine Lehrerstelle in Butjadingen belegt dies:

((text original))

Auch der Name "Malaria" hat eine Bedeutung, die gleiches besagt: "malle air" = malaria heißt "schlechte Luft".

Die Malaria wütete an der Küste zwischen 1500, der Zeit der ersten großflächigen Eindeichungen, und etwa 1850. Danach wurden die Ursachen und ein Gegenmittel bekannt. In diesen 350 Jahren starben die MarschbewohnerInnen nicht alle gleichzeitig an der Krankheit, die Küstenländer waren also nicht plötzlich menschenleer. Der Fiebertod löschte einzelne Familien aus, oder zwang sie zur Aufgabe, weil die überlebenden Familienmitglieder die Arbeit nicht mehr bewältigen konnten. Die verlassenen Höfe wurden von Zuwanderern übernommen, der Reichtum der Marsch lockte die Neusiedler aus dem Binnenland, die Krankheit schreckte sie nicht ab.

Im Bereich der heutigen Halbinsel Butjadingen scheint die Malaria jede Familie getroffen zu haben, die ehemalige friesische Urbevölkerung ist restlos durch Zuzügler ausgetauscht worden. Familien in Butjadingen können ihre Familiengeschichte am Heimatort bestenfalls 250 Jahre zurückverfolgen. Den Ostfriesen auf der trockenen malariafreien Geest gelingt dies zumeist für mehr als 500 Jahre.

Zuende ging es mit der Malaria erst vor rund hundert Jahren. Um 1830 war die Medizin nicht länger "Geheim"-lehre, sondern entwickelte sich zur nüchternen, naturwissenschaftlichen Disziplin. Arzneimittel wurden bekannt und angewendet, und ein fiebersenkendes Medikament, die Chinarinde (Chininsulfat) bewährte sich auch als Heilmittel gegen die Malaria.
Außerdem kam man den tatsächlichen Ursachen der Malaria auf die Spur. Man ging dem Übel, den ausgedehnten Schilffeldern an die Wurzel. Sie wurden gezielt entwässert oder, wie in Butjadingen, mit Süßwasser aus der benachbarten Weser durchgespült. Zu diesem Zweck mußte ein Zuwässerungskanal gegraben werden, der das natürliche Wassersystem in der Halbinsel grundlegend veränderte. Weserwasser wurde dort angezapft, wo es noch nicht mit Salzwasser gemischt ist (also möglichst weit von der Mündung in die salzige Nordsee entfernt) entnimmt und dann durch den künstlichen Kanal mitten in die Halbinsel Butjadingen hineingeleitet. Von hier wurde es dann durch die Schilfzonen geführt und durch die Siel-Systeme wieder in die Nordsee entlassen.

(vgl. Karte ) (( Karte ))

Der Butjadinger Zuwässerungskanal wurde 1850 bis 1856 gebaut, und ab 1860 gab es schon keine Fälle von Malaria mehr auf der Halbinsel.

Das Anti-Malaria-Kanalsystem war ein Erfolg. Auf längere Zeit ? Für fast hundert Jahre schon. Aber heute zeigt sich ein neues Problem: das Spülmittel, das Weserwasser ist seit einigen Jahren hochgradig mit Schadstoffen verseucht und als "Wasser" zum Tränken der Weidetiere kaum noch geeignet.
Auch der Hauptzweck der Spülung hat sich inzwischen geändert: Mußte früher die Krankheit des Menschen aus dem Lande gespült werden, so ist es heute die Krankheit der überdüngten Gewässer in der Marsch (Eutrophierung).

6.8. Steinhäuser

Die ersten friesischen Siedler bauten ihre Behausungen aus Holz, Lehm und Schilf; Materialien, die leicht zu beschaffen waren (s. Kap. 6.4). Nun wird Lehm (= Ton oder Schlick) heute als wohnfreundlicher Baustoff wiederentdeckt. Er muß also einige Vorzüge haben. Warum haben die Friesen zu einer anderen Baukultur, dem Steinhaus-Bau gewechselt?

Steinbauwerke aus natürlichen Felsbrocken oder aus handgeformten und gebrannten Ziegeln müssen den Friesen gut bekannt gewesen sein. Bei ihren ausgedehnten Reisen in die Mittelmeergebiete wird ihnen die Bautechnik der Römer nicht entgangen sein. Aber der junge, frisch entstandene Marschboden birgt keine Steine. Wer trotzdem Stein auf Stein bauen wollte, mußte das Material mit Schiffen transportieren. Der Steinbau war demnach nicht naheliegend, aber auch nicht unbekannt.

Nehmen wir daher an, daß die frühen Friesen die Steinbautechnik nicht hatten, weil sie sie nicht brauchten. Ihre Häuser waren für die alltäglichen Zwecke gut genug. Erst als die Häuser auch als Bollwerk gegen feindliche Angreifer dienen mußten, waren festere Bauwerke vonnöten. Dies war der Fall in der Zeit der ersten Fürsten und Grafen, und auch in der Zeit der Christianisierung.
Die Missionare waren es gewohnt, daß ihr Gott in einem "standesgemäßen" festen Haus verehrt wurde. Deswegen werden auch sie - aus Gewohnheit - den Bau von Steinhäusern begonnen haben. Und das war ein erheblicher Aufwand: Natursteine mußten nämlich per Schiff von den Oberläufen der Flüsse herangeholt werden.

Mit dem heimischen Bodenmaterial, der Marsch, kann zwar ein handlicher Stein gebacken werden, aber diese Backsteine aus Ton (Lehm) müssen bei hohen Temperaturen gebrannt werden. Das erforderliche Brennmaterial war in der waldarmen Küste jedoch sehr knapp und mußte teuer importiert werden. Wahrscheinlich ist ersatzweise Torf zum Ziegelbrennen verwendet worden, verbürgt ist das jedoch nicht.
Um die Steine zu Mauern zusammenzufügen, ist Mauerkalk erforderlich. Dieses Material bietet die Küste reichhaltig: Muscheln wurden auf Sandbänken im Watt gesammelt und gemahlen (gestampft). Die Kalkschalen wurden dann gebrannt und ergaben einen, auch für heutige Technik, excelenten Mauerkalk mit hoher Festigkeit bei gleichzeitiger Elastizität. Die ersten Steinhäuser und Kirchen in der Marsch sind auf hohe Wurten gebaut worden. Dort stehen die Mauern in trockener Erde. Und diese Gebäude stehen zum Teil heute noch.

Anders ist es mit den Steinhäusern ohne Wurten, die nach der Eindeichung aufs platte Land gebaut wurden. Tonböden, wie die Marsch, sind tückisch was ihre Tragfähigkeit anbelangt. Wenn sie trocken sind, scheinen sie steinhart und gut belastbar zu sein. Wird der Ton naß, so bildet sich ein weicher, zäher Knetmatsch, in dem schwere Steinmauern versacken. Bei Frost quillt der Tonboden und hebt Mauern an, um sie dann bei Tauwetter wieder in den naß-weichen Untergrund einsinken zu lassen.
Deswegen hat man später versucht, die Backsteinmauern tief zu gründen. Ein sehr breites Fundament sollte die Sackung verhindern. Trotzdem sind heute auf älteren Marschhöfen die Backsteinmauern stets rissig.

Die mangelhafte Tragfähigkeit der Marsch hatte einen typischen Hausstil zur Folge: das "Krüppelwalmdach", bei dem der Giebel nicht (wie beim Satteldach) bis unter den First gemauert wurde. So sparte man Gewicht.

(Abbildung)

Wegen dieser technischen Probleme wurden Steinhäuser in der Marsch erst ab 1750, fast 1000 Jahre nach den ersten überlieferten sakralen Steinbauten, für den allgemeinen "Hausgebrauch" gebaut.

Eine Ausnahme gab es an der Marschküste: In der Nähe von Varel wurde ab 1781 die "Christiansburg" gebaut. Am Ende einer Sandzone, auf der die Stadt Varel liegt, wurde eine Fläche von 70 Hektar Größe als Burganlage hergerichtet. Der dänische König Christian ließ diese Befestigung zur Sicherung seines oldenburgischen Besitzes bauen. Die Burganlage umschloß ((xx)) Häuser und einen angelegten Hafen. Wegen des Hafens mußte sie in Höhe der Tidewasserstände gebaut sein, deswegen war eine aufgeschüttete Wurt als Bauplatz nicht möglich.

(Abb)

Bis 1794 bestand diese Burganlage, sie war nicht in den Sand gesetzt, sondern in den Marschboden gebaut. Die Vareler Bürger weigerten sich, die errichteten Gebäude zu beziehen (vielleicht waren die ersten Bauschäden schon sichtbar). Außerdem verschlickte der Hafen so schnell, daß er unbenutzbar wurde.
1794, 13 Jahre nach Baubeginn, gab die dänische Verwaltung die fertiggestellte Burganlage auf. Die Häuser wurden als Steinbruch versteigert und abgetragen. Reste der Grabenanlagen sind heute noch am Vareler Hafen erkennbar. Dieses Großprojekt, das gegen die Natur gebaut war, hatte also keine Chance.

Es gab auch kleinere Bausünden. Ein Beispiel aus dem letzten Moor im Jadebusen mag das belegen.
In Kapitel 6.1 ((?)) ist die Ausdeichung des Sehestädter Hochmoores 1638 beschrieben, seitdem ist es als "schwimmendes Moor" bekannt. Dort gab es zunächst noch drei kleine Bauernhäuser. Sie waren in der üblichen Weise gebaut und leicht genug, um bei Hochwasser mitsamt dem Hochmoor auf dem Wasser zu schwimmen. Das letzte dieser Häuser bestand noch bis 1906. Um die Jahrhundertwende wurden in diesem Haus die Flechtwerkwände durch Steinmauern ersetzt, und auch der moorige Untergrund im Haus wurde mit gestampftem Lehm modernisiert. Dadurch wurde das gesamte Haus nun so schwer, daß es bei der höheren Flut 1905 nicht mehr mit dem Moor aufschwamm.
Es brach ein und der Bericht der Familie ist erhalten.
Alle überlebten die nassen Stunden: die Menschen auf dem Schrank, die Schweine im erhöhten Alkovenbett und die Kuh schwimmend im Stall.
Heute werden schwere Bauwerke (Industrieanlagen und Hallen) in der Marsch etwa 17 m tief auf festem Sand gegründet. Dieser Aufwand war unseren Vorfahren nicht möglich gewesen.

Excurs zu den Fundamentierungsproblemen der Moorhäuser:
In den Moorgebieten wurden die Siedlerhäuser in gleicher Bauweise errichtet: die tragenden senkrechten Pfosten der Gulf-konstruktion (vgl. ??) wurden in den Boden eingegraben und trugen das Dach. Diese Pfosten standen in sehr nassem Untergrund, konnten mangels Luftzufuhr demnach auch nicht faulen. Seit der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung der Flächen sackte das Moor ab und zudem wurde der Grundwasserspiegel künstlich abgesenkt, um die Landflächen trockenzulegen. Die Häuser blieben dabei im Endeffekt auf erhöhten Plätzen stehen (dies sind keine künstlichen Wurten!). Nun konnte Luft an die tragenden Pfeiler heran, sie verfaulten schnell und die Dächer brachen ein.

6.9. Viehbesatz

Den Eindeichungen folgte auch ein Wandel in der Nutzviehhaltung. Statt genügsamer Schafe wurden nun Rinder und Pferde gezüchtet. Der Oldenburgische Graf Anton Günter (16 xx bis 16xx) war ein Pferdenarr; seine Spezialzucht, die"Oldenburger" liebten die saftigen Gräser der frisch eingedeichten Ländereien. Während seiner Regierungszeit wurden in seiner Grafschaft 100 Hektar Neuland eingedeicht. Das "Oldernburger"-Pferd wurde als Universalpferd bekannt und durch intensive Zucht konnte sich der neue Typ schnell durchsetzen.
Den Reichtum aus der Pferdezucht brauchte Anton Günter nötig, denn in dieser Zeit des dreißigjährigen Krieges bestach er die Kriegsparteien der Religionskämpfe, wenn sie dem Land Oldenburg zu nahe kamen. Dadurch blieb seine Grafschaft kriegsfrei.

In der Folgezeit pendelte sich in der Landwirtschaft eine Mischung von Ackerbau, Milchviehhaltung, Pferdezucht und Fleischviehhaltung ein. Produziertes wurde ins Binnenland oder ab 1750 auch nach England verkauft. Wenn mehr Produkte aus einem Wirtschaftsgebiet herausgeholt werden, als dort durch die natürlichen Kreisläufe wieder ersetzt werden kann, wenn also der Landbau zu intensiv wird, magern die Böden aus. Sie werden ertragsarm, an den Produktionsgrundlagen wird Raubbau getrieben (vgl. Knickmarsch, Kap. 8.4).

Nach dem zweiten Weltkrieg kamen Traktoren ins Land, und die Technisierung hatte eine weitere Intensivierung der Landwirtschaft zur Folge. In einigen Regionen hatte sich zu dieser Zeit bereits der Ackerbau fast flächendeckend durchgesetzt. Die Bauern betonen, daß hier nur Ackerbau möglich sei, weil das Rindvieh den weichen Marschboden zertritt und sich bei der feuchtkalten Witterung nur Krankheiten holt. Wegen dieser "Zwangslage" wurde der intensive Ackerbau besonders kompromißlos gefördert.

Dagegen hat sich in anderen Teilen der Küstenmarschgebiete fast ausschließlich eine intensive Milchviehhaltung entwickelt. Diese Bauern betonen, das Wetter sei stets schlecht und man könne nur wenige Minuten im Jahr auf den Acker fahren ("Minutenböden"). Die technische Bewirtschaftung der Flächen sei also nahezu unmöglich. Wegen dieser "Zwangslage" waren dann auch die Milchbauern förderungswürdig.

Zwang hat also etwas entlastendes, sofern man ihn nicht darstellen kann. Tatsache ist, daß beide Formen der Intensivlandwirtschaft nicht an Boden und Klima angepaßt sind. Der Mensch schafft sich hier einmal mehr seine Probleme selbst. Beide Formen sind deutliche Monokulturen, weil Mais oder Weizen ohne Fruchtfolge angebaut werden, und weil zu viele milchleistungsstarke Kühe auf den Weiden gehalten werden. Viehseuchen oder Getreidekrankheiten stellen sich dadurch ein. Um diese Probleme dann zu bewältigen, ist der Bauer oft auf starke Hilfe der Chemie- und Pharmaindustrie angewiesen. - ein Teufelskreis!

Der ehemalige Vorteil der Marschböden ging auf diese Weise verloren. Seine ehemals hohe Bodengütezahl (Bodenpukte) wurde belanglos, denn chemischer Landbau ist fast bodenunabhängig. Damit gaben die Marschbauern einen natürlichen Produktionsvorteil auf. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß bei der intensiven Landwirtschaft der Bogen überspannt worden ist. Seit 1992 wird die extensive Bewirtschaftung von Grünlandflächen vom Staat bezuschußt. Andere Programme fördern die naturgemäßere Nutzung der Ackerrandstreifen seit 1988.

Im Iisselmeer war die Trockenlegung einer weiteren Polderfläche geplant. Heute verzichtet man auf diese Flächen, weil der europäische "Markt" mit Produkten der Landwirtschaft übersättigt ist.

6.10 Sozialgeschichte

Was hat der Aspekt Sozialgeschichte im Kapitel über regionale Katastrophen zu suchen - über selbstgemachte Katastrophen wohlgemerkt?
Sozialforschung interessiert sich für den Alltag der Menschen, dort zeigen sich die Kultur, die Staatsform, die Bräuche. Eine direkte Wechselwirkung zwischen den Lebensbedingungen (Natur und Umwelt) und den sozio-kulturellen Lebensformen ist naheliegend.
Das naturnahe Leben im Frühstadium der Küstenbesiedlung muß auch entsprechende soziale Formen zur Bewältigung der örtlichen Probleme entwickelt haben. Verstreute Einzelsiedlungen (in der Nähe der Schafweiden) machten einen ausgeprägten und häufigen Kontakt der Siedler untereinander sehr schwer. Während des Jahres gab es nur wenige Termine, die für größere Gemeinschaftstreffen geeignet waren. Für Feste oder Märkte mußte das Wetter gut, die Wasserwege oder die Fußwege passierbar sein und es durfte nicht gerade viel Arbeit in der Landwirtschaft anstehen.

Bei dem Nahrungsreichtum waren die Familien kinderreich. Aber die Höfe haben nicht neues Land kultiviert, sondern die Kinder sind als Seefahrer, Soldaten oder Händler gegangen.

Auswanderung nach Amerika

Zuwanderungen

Ausbluten der Regionen

Standort für Problemindustrie, Sondermüll etc

(ausführen??)


7. Heutiges Leben an der Küste - Lehren aus den Fehlern unserer Vorfahren

7.1 Forum Friesenrat

Ich bin an der Küste geboren und aufgewachsen. Angeregt durch meinen Vaters habe ich mich für Heimatkunde interessiert und bin 1979 in den Beirat des Rüstringer Heimatbundes gebeten worden. Dieser kleine regionale Heimatverein an der Wesermündung entsendet einen Vertreter in den Friesenrat. Seit 1980 bin ich dieser Vertreter.

Das erste Mal stieß ich auf der Insel Helgoland zu dieser Versammlung, 27 Abgeordnete aus den drei heutigen Frieslanden (Westfriesland, Ostfriesland und Nordfriesland) trafen sich zur routinemäßigen Vollversammlung.
Haftet dem Friesenrat noch "Asega-"haftes aus alten Tagen an? Oder gibt es hier noch Friesische Helden, wie sie die Nazis gern in ihre braune Suppe bröckelten? Ich konnte erleichtert aufatmen, trotz des hohen Durchschnittsalters der Abgesandten traf ich auf moderne weltoffene Zeitgenossen.

Der Friesenrat ist heute eine lose Vereinigung dreier Rest-Regionen der Friesischen Kultur, mit ganz unterschiedlicher Struktur. (Kasten mit Zitaten aus der Satzung von 1950)

In Westfriesland (Westerlauwers-Friesland, Niederlande) finden wir eine Europäische Region mit 300 000 Friesisch sprechenden Einwohnern. Friesische Straßenschilder, friesische Unterrichtssprache und eine typische regionale Kultur, die sich im Baustil der Häuser am augenfälligsten darstellt, prägen das Land. Ostfriesland dagegen ist eine Region, die sich sehr an den allgemeinen deutschen Lebensstil angeglichen hat. Reste der friesischen Kultur sind in den Siedlungen deutlich sichtbar, aber die Sprache ist nur in einer landeinwärts gelegenen Enklave, dem Saterland (westlich von Oldenburg), erhalten.

In Nordfriesland schließlich lebt eine typische europäische Minderheit mit 4000 Friesisch sprechenden Bewohnern im Bereich der Inseln Sylt und Föhr.

Mich interessierte, was diese unterschiedlichen Regionen miteinander verband. Die See, die Tide, das Klima, die Bodenarten, das Salz, die Buchten - all das ist für alle Frieslande ähnlich bedeutsam. Auch sind die Sünden gegen die Natur, wie Torfabbau, Deichbau, Eindeichung etc. überall an der Küste begangen worden. Eine Aufgabe des Friesenrates ist es, der regionalen Kultur heute eine Chance zu bewahren.

7.2 Heimat und so

Heimat hat heute einen neuen Stellenwert bekommen. Es gilt, die regionale Kultur zu leben und zu erhalten und gleichzeitig im europäischen Sinne weltoffen zu sein. Themen wie "Heimat und Welt im gemeinsamen Europa" waren somit auch Themen der Friesenkongresse in Aurich 1987 und in Leewarden 1990. Also nicht mehr die sich einigelnde, nationalistische Heimat soll gepflegt werden, sondern eine, die offen, gastfreundlich, aber selbstbewußt ist.
Das ist heute möglich, und offenbar auch ein Bedürfnis der Menschen, wie die steigenden Mitgliederzahlen der Heimatvereine zeigen.

7.3 Charakterprägende Besonderheiten - oder: Was fotografiert ein Gast?

Heimatliche Kulturräume werden oft durch die natürlichen Lebensumstände vorgegeben. Die "typische" Küstenlandschaft ist von der Natur vorgegeben. Vegetation, Baustile und Gebräuche sind nicht beliebig, sondern sie überzeugen Einwohner wie Gäste nur dann, wenn sie im Einklang mit der Natur stehen.
Bei einer "Landschau" sind wir 1982 mit dem Rüstringer Heimatbund über das Butjadinger Land gefahren und haben alles notiert, was der Landschft einen typischen Charakter verleiht. Die Schlüsselfrage war sehr einfach: würde sich hier ein Foto lohnen, um unseren Freunden denen wir die Bilder der Heimat zeigen wollen, etwas interessantes mitzuteilen. Viel gab es leider nicht mehr zu notieren, jedoch lohnt es sich, für die Reste zu kämpfen.

7.4 Tourismus

Das Schlüsselwort des Freizeitmarktes heißt heute "Sanfter Tourismus". Was hat eine Region zu bieten, die sich ihrer Kulturgeschichte bewußt ist? Können wir an der Nordseküste Gäste mit Erlebnissen und Informationen begeistern,die sie nur bei uns bekommen?

Einige Vorschläge, wie das zu machen ist:
1. Schlickausstellung - Bericht
2. Schilf
3. Ebbe und Flut, Bericht
4. Deichmuseum
5. Weidenbäume
6. Heimische Produkte
7. Spiele
8. See, Schiffahrt und Tauknoten
9. Vogelzug und Fischreichtum
10. Historischer Hausbau
11. Graupen für Alle
12. Lügengeschichten
13. Spielereien mit der Form der Halbinsel Butjadingen
14. Regional-Rätsel, Kreuzwatt-Rätsel
15. der Ostfriesenwitz (Nicht der!, sondern der typische)

7.5 Technik heute

Viele Zerstörungen an der Küste haben ihre Ursache in falsch eingesetzter Technik. Die Liste der Beobachtungen und Vorschläge ist lang. Einzelfälle, die alle belegt sind, sollen aufgezählt werden, die Reihenfolge ist zufällig, die Probleme sind mal mehr, mal weniger dramatisch:

1. Deiche: Ohne Deichvorland sind Deiche durch fehlenden Wellenbrecher-Effekt extrem gefährdet (Kap ??). Solche Deichlinien müssen entweder ein künstliches Vorland bekommen, oder die Deichlinie muß zurückgenommen, die Eindeichung rückgängig gemacht werden.

2. Befestigungen in den Salzwiesen: Wenn Sommerdeiche oder Wege ins Deichvorland betoniert werden, so versacken sie durch ihr enormes Gewicht nach kurzer Zeit (längstens fünf Jahre).

3. Bagger: Bagger in den Salwiesen erleichtern zwar die Erdarbeit, sie machen aber aus dem festeren Schlickboden durch die Vibrationen des Motors eine weiche Suppe. Die Fahrspuren graben sich tief ein und waschen deswegen besonders leicht durch Regenwasser oder durch Springfluten aus.

4. Bauwerke im Watt, die das Wasser beruhigen sollen, können Schlengen (aus Strauchwerk) oder Buhnen (aus Steinpackungen) sein. Sie dürfen den freien Lauf der Flut und Ebbe jedoch nur bremsen, nicht aber verhindern. Wenn also Plastikfolien in die Steinbuhnen eingearbeitet werden, oder die Buhnen mit frischem Schlick verklebt werden, so wird sich das Wasser an wenigen Stellen einen Weg suchen und dort mit erhöhter Strömung große Zerstörungen anrichten.

5. Blanker Boden: Wird durch Baggerarbeiten der Schlick offen liegen gelassen, also ohne Abdeckungen durch Grassoden, dann reichen nur zwei Springfluten (also 8 Wochen) und ein wenig Regenwetter, um diesen Schlick wegzuspülen. Funktioniert so die Arbeitsbeschaffung für Baggerführer ?

6. Profil von Prielen: Wenn im Watt ein neuer Priel gebaggert wird, hat er oft ein gleichbleibendes Profil (Breite und Tiefe). Die Strömungsverhältnisse erfordern jedoch ein sich zum Land hin verjüngendes Profil, so wie es die natürlichen Priele zeigen.

7. Prielverlauf: Ein frisch gebaggerter Pril wird meist schnurgerade angelegt. Die naturgesetzlichen Mäanderkräfte im weichen Watt werden diese Linien zwangsläufig umformen. In nur fünf Jahren enwickelt sich der geschwungene Lauf wieder. Der Fehler ist hier, wie auch in Punkt 5, daß durch die Wasserströmung Schlick umgeschichtet werden muß. Wir sollten die Wattflächen möglichst in Ruhe lassen, damit sie sich selbsttätig langsam entwickeln können.

8. Wellenbrecher: Als Wellenbrecher werden kompakte Körper aus steingefüllten Drahtkästen oder sogar aus drohend gestalteten Betongebilden, sog. "Tetapoden", verwendet. Natürlich sehen sie mächtig und stabil aus. Das Wasser strömt nun nicht mehr dort, wo sie liegen, sondern daran vorbei - und das um so heftiger. Dadurch entstehen tiefe Ausspühlungen (Kolke) neben den Betonfüßen, die so tief sind, daß diese hinrutschen. Die mächtigen Wellenbrecher begraben sich selbst.

9. Eindeichungen: Die Eindeichung der Buchten (Nordstrand) wurde damit begründet, daß die Deichlinie damit verkürzt, also die drohende Gefahr eines Deichbruches verringert würde. Dieses Argument ist genauso dumm, wie das der Raser auf den Straßen: wenn ich mit 200 km/h fahre, bin ich nur kürzere Zeit auf der Straße und verringere die Zeit, in der mir Unfälle passieren können.
Ein neuer Deich im weichen Watt verschlingt enorm viel Erdmassen, weil er tief gegründet werden muß. Der weiche Untergrund setzt sich manchmal erst nach 20 Jahren. Wegen des fehlenden Vorlandes werden höhere Wellen auf den Deich prallen; er muß also wesentlich höher gebaut werden. Wegen der möglichen Erosion durch die hohe Wellenenergie kann an den Böschungen oft auch kein Gras mehr verwendet werden, der Deich wird dann Betoniert oder asphaltiert.

10. Gräben: Wird parallel zu einem Sommerdeich oder zur Salzwiesenkante ein Graben gebaggert, so verstärken sich Strömungen vor diesen Kanten, die Gräben waschen aus und verbreitern sich.

11. Grasnarbe: Auf den Salzwiesen wurde auch schon, hoffentlich ein Einzelfall, die Grasnarbe (Andelgras) umgepflügt, um besseres Süßwassergras einzusäen. Dies zeugt von völliger Ahnungslosigkeit über die salzresistente Vegetation in den Salzwiesen.

12. Häfen: Hafenanlagen an der Küste werden verschlicken, wenn sie keinen ausreichenden Spülwasserzufluß aus dem Binnenland haben. Neuangelegt Jachthäfen leiden darunter. Das Kriegshafengesetz zum Schutze von Wilhelmshaven verbietet folgerichtig Eindeichungen im Jadebusen.

13. Dämme: Neue Bauwerke im Watt (Leitdämme) verändern Wasserströmungen auch großräumig. Dies zeigt sich an der nordfriesischen Küste besonders gut. Die Insel- und Halligdämme verbessern zwar die Neubildung von Salzwiesen, das verdrängte Wasser frißt aber neue tiefe Rinnen (Zum Beispiel zwischen Amrum und Föhr).

14. Algen: Wenn durch Giftstoffe, die als Abfall in das Wattengebiet gelangen, das Algenwachstum behindert wird, so fehlt auch das verklebende Substrat, das ein Abschwemmen des Schlickbodens verhindert. Bereits beobachtete algenfreie Flächen ("Schwarze Löcher") auf den Wattflächen könnten diese Katastrophe andeuten.

15. Zugvögel: Schadstoffe und Landverbrauch im Watt verringern die Nahrungsproduktion für die dort lebenden Tiere. Die vielen Zugvögel sind darauf angewiesen und würden sterben, oder auf die Landwirtschaftsflächen im Binnenland ausweichen. Ein Konflikt mit den Bauern ist vorprogrammiert.

16. Lastwagen: Zum Deichbau werden heute Lastkraftwagen mit über 40 Tonnen Einzelgewicht eingesetzt. Auch wenn dies nur 20 Tonnen pro Rad sind, so können doch Grundbrüche (weiche Zonen im Untergrund brechen ein) auch schon bei geringeren Lasten auftreten.

7.6. Kultur - Kolonialismus

Dieses Kapitel schreibe ich 2014 . Das Problem ist aber schon mit der Landschau 1982 angedacht. Die Abschaffung der Friesischen Kultur ist immer noch aktuell und auch heute könnten wir noch einiges retten. Einige Regionen machen uns das vor. Nun aber konkret einige Beispiele, Einzelfälle, die alle belegt sind, sollen aufgezählt werden, die Reihenfolge ist zufällig, die Probleme sind mal mehr, mal weniger dramatisch:

1. Betonpflaster, indischer Granit oder Asphalt ersetzen heimische Tonsteine (Klinker).

2. Hausgiebel in belgischen Stufen und halb-reitdach - Häuser ( die nur auf der Strassenseite Reitdächer haben) sind Theaterkulissen.

3. In Abbehausen steht der höchste Bayrische Maibaum Europas.

4. Das Friesische Kaufhaus vermarktet in Form und Inhalt ein künstliches Friesenbild

5. Ein Mittelalter - Tipidorf soll hautnah originales friesisches Leben vermitteln.

6. Der Friesenstrand in Tossens ist befremdlich.

7. Jan Vorwärts hat mit seinem Friesland - Lied gezeigt was uns noch bevor steht.

8. Ein Center Parcs-Ferienpark Nordseeküste hat Indoordspielplatz, Aqua Mundo, Subtropik, Palmen und Sansibar.

9. Die Ostfriesenwitze haben unserer Kultur nicht geholfen.

Die Aufzählung wird erweitert. Gemeint sind solche Kulturelemente, die in die von Aussen, zumeist gewinnbringend in dien Region gedrängt werden, weil dorf viellecht ein Kulturvakuum besteht. Hätten wir eigene Kulturstrukturen würden die Kolonialisten keinen Platz finden.

8. Schluß ((???))


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