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Kulturkolonialismus


Im Frisenrat ist die Frage aufgetaucht wieweit wir uns an der Diskussion um die Weservertiefung einbringen können.
Der Eingriff in den Wasserlaufes der Weser kann auch die regionale Kultur schwächen.
Dazu habe ich folgenden Beitrag geschrieben, der auch für andere Regionalkulturen wichtig ist.

Die Weservertiefung ist nur ein Mosaikstein in der Veränderung unser Kulturlandschaft an der Nordseeküste.
Als Friesenrat sollten wir diesen Einzel-Mosaikstein aus dem Blickwinkel unserer kulturellen Ideale betrachten.
Das möchte ich zum Anlass nehmen mir über die Friesische Kultur einige Gedanken zu machen.

In der Öffentlichkeit sollten wir für die Traditionen und für die Erhaltung der friesischen Kultur bekannt sein. Dabei sollten wir deutlich gemacht haben was wir unter der friesischen Kultur verstehen, welche Veränderungen wir wahrnehmen und welche Ziele und Perspektiven wir haben. Die allgemeine Gesellschaft sollte unsere Bemühungen um die Kultur wissen und den Wert für ihrer regionale Identität erkennen.

Wir benennen und kritisieren die einzelnen Mosaiksteine der Kulturveränderung nicht nur sondern suchen und versuchen Auswege und Alternativen zum Verlust der regionalen Identität.
Die "Moderne Zeit" hat neue Leitlinien des Lebens entwickelt. Drei Beispiele:
1. die Mobilität mit eigenem PKW auf ausgebauten Schnellstraßen
2. regionsfremde Medien suchen und finden neue Märkte in der Region
3. die Arbeitswelt verliert familiäre und kooperative Prägung

Viele der "Modernisierungen" haben das Alltagsleben sicher auch gesünder, bequemer und angenehmer gemacht. Es wäre sogar leichter geworden, die heimische Kultur mehr zu pflegen.
Einige Neuerungen haben sich in der Vergangenheit den natürlichen Verhältnissen angepasst. An unserer Küste mag dafür die Verlagerung der Tiefseehäfen aus Bremen nach Bremerhaven und aus Hamburg nach Cuxhaven als Beispiel dienen.

Das Problem der "modernen" kulturellen Veränderung liegt oft an der Maßlosigkeit der Neuerungen.
"Über das Ziel hinaus zu schießen" ist vielleicht ein altes Problem, aber hier sind es neue Motive, die den Umbau der Landschaft und der Lebensweisen antreiben.
In meinen Vorträgen habe ich die neue Situation mit dem alten Kolonialismus erklärt.
Glasperlen und Schnaps haben vor 200 Jahren geholfen, um die Ausbeutung der Bodenschätze in den besetzten fremden "Hoheitsgebieten" ungestört zu betreiben. Heute brauchte man dazu Bananen für das Volk um deren eigenständige Wirtschaft auszurauben und zu zerstören.
Die Maßlosigkeit des Kolonialismus, das Versklaven der Einwohner oder die Zerstörung von Wäldern ist Zeichen der menschlichen Gier nach Reichtum. Das Gefühl kultureller Überlegenheit und der Herrschaftsanspruch überschwemmt die Kolonie mit der importierten Kultur. Die lokalen kulturellen Gewohnheiten der Menschen werden auf wenige "Reservate" eingeschränkt.
Kolonialismus (Entwicklungshilfe) ist nicht notwendig brutale Zerstörung. Wenige Beispiele zeigen auch positive Varianten eines Engagements für die Eigenständigkeit und Überlebensfähigkeit eine fremden Volkes.

Betrachten wir also die Küstenlandschaft vor dem Hintergrund der Spielregeln des maßlosen Kolonialismus. Fünf Gedanken und Beispiele können andeuten wie ich aus diesem Blickwinkel die Lage einschätze. Jeder dieser Aspekte bedarf einer ausführlichen Analyse. Ich kann hier nur kurz andeuten, wie sich mir die Situation darstellt.

1. Monetäres Wertesystem
In dieser Konsumgesellschaft hat sich die Rolle des Geldes in der breiten Öffentlichkeit eine eigene Kultur geschaffen.
- Gewerkschaften kämpfen vorrangig um Geld, weniger um die Arbeitsplatzqualität.
- Schulen bieten eine Börsen-AG an, bei der Geldspekulation geübt wird.
- Platzhirsche (Manager), die mehr Geld abziehen als sie ausgeben können werden von vielen Bürgern bewundert.
- Wohlstand wird in Geld gemessen, nicht in Medikamentenverbrauch oder kultureller Lebensqualität.
- Kaufkraft-Landkarten bestimmen die Zukunft von Regionen.
- Straßen und Autobahnen wurden ab 1975 angelegt um die Käufer vom Land in die Städte mit neuen großen Einkaufszentren zu locken.
- Externe Planungs- und Baugesellschaften errichten Wohnbauten und Konsumzentren
- Entlohnte Beschäftigte in kulturellen Einrichtungen behindern oft die selbstlose Mitarbeit von Bürgern, (Hauptamtlich gegen ehrenamtlich)

Die starke Vorherrschaft des Geldes können wir nur schwer zurückstellen. Es gibt aber viele Beispiel und Versuche einige Exzesse zu mildern:
- Nachbarschaftshilfe wird belebt
- Tausch von gebrauchten Nutzartikeln, second hand - Läden
- Privates Angebot von Nahrung (Äpfel verschenken etc.).
- Ehrenämter sollen (sollten ?) staatlich gefördert werden.
- Dorffeste und Märkte werden nicht mehr von externen Agenturen organisiert
- Direktvermarktung von eigenen Produkten ist erlaubt (zB. Milch)

2. Bildung und Ausbildung
Wir sollten lebenslang lernen, aber dieses Thema trifft oft Kinder und Jugendliche, die auch wichtiger Nachwuchs für unsere Kulturarbeit sind. Aber:
- Vielfalt wird schon in der Schule abgewählt
- Lehrkräfte kennen sich mit der Zukunft der Schüler (Arbeitswelt) und mit der kulturellen Umwelt (regionalem Vereinsleben) der Schule nicht aus. Sie wohnen oft auch nicht in der Schul-Region.
- Bildung reduziert sich auf die Reproduktion einiger Lerninhalte als Prüfungsziel.
- "Heimatkunde" als Schulfach gibt es nicht mehr.
- Regionaldialekte werden vermieden

Die starke Veränderung der Bildungslandschaft können wir nur schwer zurückstellen. Es gibt aber viele Beispiel und Versuche einige Exzesse zu mildern:
- Regionalsprachen dürfen als Unterrichtfach angeboten werden.
- Schulausflüge in die Region, zu Gewerbebetrieben oder Naturschätzen in der Nachbarschaft sind möglich.
- AGs bieten regionale Projekte, zB. Äpfel sammeln, mosten und in der Schule kostenlos ausschenken.
Unser Beitrag in der Umweltstation Iffens ist es, einen "Praxistag Heimatkunde" zu entwickeln und zu etablieren. In acht Zeitstunden kann an einem Tag vieles praktisches zur Regionalkultur ausprobiert werden. Dieses Programm ist für alle Altersstufen gedacht.

3. Freizeitgestaltung
Der Anteil der frei verfügbaren Freizeit ist sicherlich gestiegen. Viele Menschen haben aber die Verantwortung und Planung dieser Zeit der Freizeitindustrie überlassen.
- Kurzurlaube in Touristenghettos sind nicht in der Lage andere Kulturen kennen zu lernen.
- In den Bildern der Werbekataloge werden austauschbare Traumwelten versprochen, die aber selten bedient werden.
- So werden auch Waren angeboten, die den "lifestyle" fördern sollen, es wird individuelles Wohlbefinden versprochen. Real werden die Wünsche der Kunden aber auf normierte Waren und Verhaltensweisen umgebogen, weil nur diese in größerer Anzahl gewinnbringend verkäuflich sind. ("Küstengold", "friesisches Kaufhaus")
- Regionale Kultur wird auf vermarktbare Elemente umfrisiert, die ein Gefallen von möglichst vielen fremden Gästen finden.

Die industrielle Freizeitkultur können wir nur schwer zurückstellen. Es gibt aber viele Alternativen zu denen wir neuerdings auch durch die Pandemielage oft gezwungen werden:
- aktive selbstbestimmte Freizeitgestaltung ist wieder üblich geworden
- Hobbys werden attraktiver
- Tagesausflüge der Familie mit dem Fahrrad.
- Fotoreise durch regionale Besonderheiten, Naturschätze, Bauwerke, Vogelwelt..
- Zeit zum Kochen lokaler Gerichte.
- Anbau lokaler Spezialitäten (Steckrüben, Grünkohl, etc.)
- Zeit zum Ordnen der Familienhistorie (Dokumente, Fotos,etc.)
- im Freiland die Sonnenauf- und untergänge, Wolkenbilder, etc. genießen

4. Selbstwertgefühl
Individualität und sorgsamer Umgang mit sich selbst und mit seiner Umwelt ist für die Konsumindustrie schädlich. So gibt es viele Entwicklungen zur Normierung der Bürger.
- Bereits in der Schule lernen wir nicht von "ich und du" zu sprechen, sondern von "man".
- Vielfach ist die typische Identität einer Region ( CI) verlorengegangen, auch nach aussen wird keine gemeinsame Eigenständigkeit ( CD) gezeigt.
- Viel Küstenbewohner fühlen sich "rückständig" und gehen mit Gästen griechisch Essen.
- Jugendfahrten gehen zum Heidepark oder in die Städte, obwohl das Angebot an Wattwanderungen, Naturführungen und Fahrradrouten besteht.
- Die Benutzung einer vermeintlichen regionalen Identität zeigen die Marken "Friesisches Kaufhaus" und "Küstengold". Hier werden beliebige Produkte (Made in China ??) als regional verkleidet vermarktet.

Das mangelnde regionale Selbstwertgefühl können wir teilweise reparieren.
- Bayern und Baden Württemberg geben ein Beispiel: Die Schwaben sind stolz auf ihren Spruch: "Mir kennet elles außer Hochdeutsch".
- Mit Kindern, Schülern und Jugendlichen gibt es Anregungen und Hilfen in die Natur zu gehen und Tiere und Pflanzen zu beobachten.
- Museen, Vorträge, Zeitungsserien bieten Informationen und Beispiele.
- Regionales Essen kann genutzt und selbst gekocht werden.
- in den Vereinen können wir die traditionellen Stärken der Region festigen.
- die Mitarbeit in Vereinen stärkt auch unser eigenes Selbstwertgefühl.

5. Bewirtschaftung von Landschaft, Seen, Flüsse, Forst
Nun komme ich zur Frage der Weservertiefung, also der Veränderung von Naturräumen zum Nutzen und Gewinn der Geldwirtschaft von "global playern" . Dieser Fall ist ein Mosaikstein im Bild der systematischen gesellschaftlichen Umstrukturierung.
Die Vertiefung der Fahrrinne wird offiziell als "Fahrwasseranpassung" beworben, wobei die Anpassung an das Gewinnstreben weniger (es sind zwei !!) Industriebetriebe zu Lasten der Naturräume gemeint ist. Die Anpassung an die natürlichen und regionalen Rahmenbedingungen zu Lasten der Industriebetriebe wäre auch möglich, wird aber von der Wirtschaftsförderung vermieden. Ein gleiches Beispiel ist der technische Ausbau der Ems zur Erhöhung der Gewinne nur eines Industriebetriebes.

Ein Naturschutzverband muss aus seinem Blickwinkel die Weservertiefung isoliert betrachten.
Unsere Position als Friesenrat sollte aber das Gesamtbild der Kulturveränderung durch die Bewirtschaftung der Region als Ausgangspunkt haben. Eine intensive Nutzung der Region wird schnell zur gewissenlosen Ausnutzung.
Einige Beispiele der "modernen" Lage von Natur und Landschaft:
- Die respektvolle Nutzung der Natur macht Platz für eine Ausbeutung der Möglichkeiten vom "Substrat Boden mit Zuchtfarmen für Tiere, Fische oder Monokulturpflanzen.
- Die technischen Möglichkeiten zur perfekten Umgestaltung von Naturräumen sind mit sehr großen Maschinen schnell und billig zu haben.
- Wiesen, Gräben, Plantagen und die Tierhaltung werden maschinengerecht gestaltet. Natur muss sich den Erfordernissen der Geldwirtschaft anpassen.
- So werden auch die Flüsse zu Tiefseestrassen, (obwohl der Bau des der Jade-Weser-port genau das vermeiden sollte)
- Fabriken fügen sich nicht den natürlichen Bedingungen, Bauland wird frisch mach belieben aufgeschüttet.
- Landwirte investieren die staatlichen Fördergelder nicht in die Stabilisierung (Qualität) sondern in die Erweiterung ihres Betrieben (Quantität), im Interesse der Kreditbanken.
- Baustiele, Hausformen und Baumaterialien verlieren den regionalen Charakter.
- neue Verkehrswege zerstören Naturschutzgebiete und Landschaften
- große (breite) Landmaschinen und leere Weideflächen prägen eine neue Landschaft.
- Gewässer und Gräben verkommen zu technischen Kanälen.
- romantisches Landleben gibt es nur noch auf Kalenderblättern

Wenn ein Großbetrieb nicht die Fußballvereine sondern die Museen und Kulturträger sponsert, könnte das belebte Reservate erhalten. Aber fast immer wird die regionale Kultur den Wirtschaftsinteressen geopfert. Das ist für viele Bewohner normal und Ausdruck einer "neuen modernen" Gesellschaft. Sie wurden bereits auf die Mechanismen der vorher beschrieben vier Aspekte umgepolt.
Wir können die Veränderungen in der Landschaft nur selten zurückstellen. Es gibt aber Möglichkeiten hier etwas zu retten:
- Die Wohlfühlwerte der Landschaft und Vegetation werden nicht nur von Gästen entdeckt.
- Schutzgebiete werden gefördert (Rastvogelprämie für Landwirte)
- Die Europäische Union als großer Geldgeber für die Regionen fordert die Ausweisung und Festigung von Denkmal-, Naturschutz und Artenschutz. Die "Objektförderung" sollte aber um eine personelle Hilfe (nicht nur Ehrenamt) erweitert werden.

Fazit.
Was also tun im Einzelfall der Weservertiefung?
Wir können als Friesenrat-Ost das Thema ausführlich bei einem Treffen vorstellen und diskutieren. Wir können ermitteln welche kulturellen Folgen der Emsausbau bisher hat. Das Leitthema kann dabei die Bedeutung von Eingriffen in Naturräume in unserem Kulturgebiet sein.
Am Beispiel der Weservertiefung können wir die Folgewirkungen auf kulturelles Leben und regionales Wirtschaften im Weserraum diskutieren. Das können wir ggf. auch öffentlich machen.

Aber welche "Kultur" sollen wir als Friesenrat vertreten ?

Es gibt wohl keine einfache Formel die kurz und knapp unsere Ziele und Inhalte beschreibt. Friesische Kultur ist (glücklicherweise) vielfältig und historisch wie auch aktuell sehr vielschichtig. Durch die Zusammensetzung des Friesenrates ist es einfach, viele Sichtweisen, Blickwinkel, Erfahrungen, Traditionen und Lebensweisen zu kombinieren. Die Lebensräume (Westfriesland, Ostfriesland/Saterland und Nordfriesland) haben eigene politische Entwicklungen und gesellschaftliche Einflüsse, die aber das ursprüngliche "friesische" nicht voll verdrängt haben.
Die friesische Sprache ist sicherlich eine einfache Gemeinsamkeit, die eine nötige Wertschätzung verdient und auch bekommt. Andere Blickwinkel sind der historische, den Thomas Steensen in seinem neuen Buch schön beschreibt und auch sein Reisebericht mit vielen persönlichen Erfahrungen und Eindrücken in den Frieslanden eine besonderer nacherlebbarer Blickwinkel. Reiseberichte sind in den Medien aktuell sehr beliebt und haben einen hohen Unterhaltungswert. Vor 100 Jahren war die Herrschaftsgeschichte mit Völkern und Kriegen beliebt und in Mode.

Mein Beitrag zum kulturellen Verständnis ist der Blickwinkel der Ökologie als Ursache kultureller Details. So beschreibe ich alte Gebräuche und Gewohnheiten mit den regionalen Vorgaben von Seewasser, Tide, Marschboden, Küstenwetter, Jahreslauf oder Vegetation. Diese "Ökosystemfaktoren" sind an der Nordseeküste einmalig. Ihre Extremwerte wie Sturmfluten, Stürme und Dürrephasen sind oft gut dokumentiert. Die "Kultur des Alltags" ist in den ökologischen Rahmenbedingungen tatsächlich ersichtlich und verständlich, auch wenn sie in vielen historischen Beschreibungen fehlt. Kulturelle regionaltypische Elemente wie Nahrungsangebot, Kochrezept, Architektur, Feste und Feiern, Seefahrt, Fischfang, Tierhaltung oder Baustoffe erkläre ich in Vorträgen und Praktika mit vielen Objekten und Beispielen.
Dabei bemühe ich mich möglichst viele lustige, verblüffende und humorvolle Aspekte deutlich zu machen (die fehlen mir in den Museen).
Die feudale Herrschaftskultur und die Sichtweisen von ortsunkundigen Historikern (Tacitus et al.) lasse ich unberücksichtigt.

Der Blickwinkel aus dem Haushalt der Natur macht mir viel Spaß und ich verstehe ihn als Ergänzung zu den anderen Sichtweisen der Kolleg*innen im Friesenrat.

Dezember 2020 Viele Grüße
Wolfgang
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